»Meine süße kleine Stieftochter Nadja«, seufzte Bea und setzte sich zu mir. Ich nickte verständnisvoll und fragte mich, ob Nadja auch im Bett so abgebrüht war.
Montag, 31. Mai 2010
Hauptkommissar Steffen Siebels saß bereits morgens um 7:00 Uhr in seinem Büro im Frankfurter Polizeipräsidium. Vor ihm stand eine dampfende Tasse Kaffee auf dem Schreibtisch, unter dem Tisch standen seine Schuhe. Seine Füße lagen auf dem Schreibtisch. In seinen Händen hielt er die Bild-Zeitung.
»Guten Morgen.«
Siebels schaute kurz auf. Charly Hofmeier stand im Türrahmen. Siebels nickte ihm kurz zu und vertiefte sich wieder in seine Lektüre.
»Störe ich?«, fragte Charly. Charly Hofmeier war der IT-Spezialist im Präsidium und auch sonst für alle möglichen Aufgaben zu gebrauchen.
»Schwarz Rot Lena«, las Siebels die Schlagzeile aus der BILD vor. »Alle lieben Lena und das ganze Land tanzt singend durch die Straßen.«
»Bist du jetzt etwa auch zum Legastheniker mutiert?«
»Logisch. Das ist jetzt erste Bürgerpflicht.«
»Dann bist du aber bald arbeitslos. Menschen, die singend durch die Straßen tanzen, morden nicht.«
»Ein paar Außenseiter gibt es immer«, brummte Siebels und betrachtete missmutig sein Telefon, das gerade anfing zu klingeln. Behäbig nahm er die Füße vom Tisch, legte stattdessen die Zeitung darauf und griff zum Hörer. Während des Telefonats kritzelte er ein paar Stichworte auf seinen Notizblock und beendete das Gespräch dann, ohne dabei selbst viele Worte verloren zu haben. »Und schon hat so ein Außenseiter wieder zugeschlagen«, klagte Siebels und schlüpfte in seine Schuhe.
»Ein neuer Fall?«
»Tote Frau in einer Villa auf dem Lerchesberg. Fremdeinwirkung scheint sehr wahrscheinlich. Mehr weiß ich auch noch nicht. Möchte nur wissen, wo Till wieder bleibt.«
Till Krüger war der jüngere Kollege von Steffen Siebels. Just in dem Moment, als sein Name fiel, zwängte er sich an Charly vorbei ins Büro.
»Falsche Richtung«, sagte Charly. »Draußen wartet Arbeit auf euch.«
Till legte seinen Motorradhelm ab und schaute auf die Uhr. »Es ist noch nicht mal halb acht. Eigentlich wollte ich erst mal in die Kantine und was zum Frühstücken besorgen.«
»Der frühe Vogel fängt den Wurm«, verkündete Charly.
»Ich will keinen Wurm, ich will Käsebrötchen.«
»Sag das nicht mir, sag das dem Außenseiter.«
Till schaute zu Siebels. »Ich will Käsebrötchen.«
Siebels schaute kopfschüttelnd zu Charly. »Er glaubt tatsächlich, ich wäre der Außenseiter.«
»Wer ist denn der Außenseiter?«, fragte Till. »Der Herr Staatsanwalt?«
»Nee, der ist Insider«, belehrte ihn Siebels. »Der Außenseiter ist der, der nicht singend durch die Straßen tanzt.«
»Aha. Ihr zwei habt euch heute Morgen doch mit dem Hammer geföhnt. Ich hole mir jetzt mein Käsebrötchen.«
»Bring mir auch eines mit«, bat Siebels. »Ich warte unten im Wagen auf dich. Wir haben anscheinend einen neuen Fall.«
Der Lerchesberg im südlichen Sachsenhausen galt als Wohngegend für die besser betuchten Frankfurter Mitbürger. Siebels brauchte nicht lange zu suchen, zwei Streifenwagen standen vor der Zufahrt der von ihm gesuchten Adresse. Neugierige Nachbarn versammelten sich auf der Straße und versuchten einen Blick auf das Grundstück zu erhaschen. Hohe Hecken machten dieses Unterfangen fast unmöglich. Siebels und Till ließen den Wagen vor der Zufahrt stehen, wiesen sich bei den Streifenpolizisten aus und betraten das Grundstück. Sie gingen auf eine prachtvolle Villa zu. Vor der Eingangstür standen zwei Männer mit übergestülpten Plastikanzügen. Die Kollegen von der Spurensicherung rauchten eine Zigarette.
»Können wir schon rein?«, fragte Siebels.
»Wir sind fast fertig, immer rein in die gute Stube«, bekam er zur Antwort. »Die Tote liegt draußen im Garten. Sie ist im Pool ertrunken.«
Siebels nickte und betrat das Haus. Till folgte ihm durch einen lichtdurchfluteten, mit hellem Marmor ausgelegten Vorraum. Im Wohnzimmer trafen sie auf den Fotografen, der seine Fotos bereits alle geschossen hatte. Die Schiebetür zur Terrasse stand offen. Draußen kniete eine Frau über einem leblosen Körper. Siebels schaute sich nach Dr. Petri um, konnte den Gerichtsmediziner aber nirgendwo entdecken. Till betrachtete sich die Umgebung. Anthrazit geflieste Terrasse. Schwarze Rattanstühle standen um einen Tisch mit schwerer Steinplatte. Auf dem Tisch lag ein Buch. Daneben stand ein Aschenbecher. Der Pool lag nur wenige Meter von der Terrasse entfernt, hinter dem Pool erstreckte sich ein weitläufiger kurzgeschnittener Rasen, der von außen nicht einsehbar war. Meterhohe Hecken und Mauern begrenzten das Grundstück.
»Siebels, Mordkommission«, sagte Siebels und kniete sich neben die Frau, die die Leiche begutachtete.
»Guten Tag, Herr Siebels. Ich habe ja schon viel von Ihnen gehört.« Die Frau streckte Siebels die Hand entgegen. »Lehmkuhl. Anna Lehmkuhl. Ich bin die Nachfolgerin von Dr. Petri.«
»Die Nachfolgerin?«
»Ja. Dr. Petri hat sich in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Wussten Sie das nicht?«
Siebels erinnerte sich dunkel, dass Petri vor einiger Zeit eine entsprechende Bemerkung gemacht hatte. »Er hat mich gar nicht zu seiner Abschiedsfeier eingeladen.«
»Die holt er bestimmt noch nach. Er ist gleich an seinem ersten Tag als Pensionär auf ein Kreuzfahrtschiff gegangen und kreuzt jetzt irgendwo in der Karibik.«
»Petri hatte schon immer einen guten Stil«, bewunderte Siebels seinen alten Kumpanen.
»Darf ich mir die Leiche mal anschauen?«, fragte Till, der hinter den beiden stand.
»Mein Kollege, Till Krüger«, stellte Siebels ihn vor. »Till, das ist Frau Dr. Lehmkuhl. Die Nachfolgerin vom alten Petri.«
Till setzte sein charmantestes Lächeln auf, als er Anna Lehmkuhl ins Gesicht sah. »Sie sind also der berühmt-berüchtigte Frauenheld aus dem Frankfurter Präsidium«, begrüßte ihn die Gerichtsmedizinerin und streckte auch ihm die Hand hin.
Tills Lächeln gefror und er erstarrte für einen Moment zu einer Salzsäure. Anna Lehmkuhl lachte. »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.«
Till verfluchte sich und seine letzte Affäre mit Simone, der jungen Streifenbeamtin, die im Präsidium nur die wilde Simone genannt wurde. Zu spät hatte er erkannt, dass die wilde Simone sich ihren Beinamen redlich verdient hatte. Sie stürzte von einer Katastrophe in die nächste, riss alles und jeden aus ihrem Umfeld mit und plauderte ohne Unterlass und ohne jede Rücksicht auf ihre oder anderer Leute Intimsphäre. Wenn Till morgens ins Präsidium kam, wussten schon Hundertschaften von Polizisten, wie er in der Nacht zuvor bei der Umsetzung eines neuen Kapitels aus Simones Kamasutra-Buch wieder einmal gescheitert war. Die Beziehung hielt denn auch nur wenige Wochen und mittlerweile war Simone mit einem Nahkampfkrieger vom SEK liiert und Till wieder auf Brautschau. Und Anna Lehmkuhl passte hervorragend in sein Beuteschema.
»Soll ich?« Anna Lehmkuhl nahm das Tuch in die Hände, mit dem die Leiche bedeckt war, und deutete an, es zurückzuziehen.
Till und Siebels nickten. Anna Lehmkuhl gab den Leichnam preis. »Beate Sydow, 49 Jahre alt. Tod durch Ertrinken. Sie wurde mit Gewalt unter die Wasseroberfläche gedrückt und hat sich heftigst gewehrt. Abgebrochene Fingernägel, zwei gebrochene Finger. Vermutlich wurde ihr auf die Finger geschlagen oder getreten, als sie sich am Beckenrand aus dem Pool ziehen wollte.«
Siebels betrachtete sich widerwillig die vom Wasser aufgedunsene Leiche. Er stellte sich vor, wie die Frau um ihr Leben gekämpft hatte. Wie sie sich mit aller Kraft aus dem Pool retten wollte und den Kampf gegen ihren Mörder letztendlich doch verloren hat. Er stellte sich vor, wie die Frau sich gefühlt haben musste, als ihre Kräfte nachließen und sie erbarmungslos immer wieder unter die Wasseroberfläche gedrückt wurde. Wie sie immer mehr Wasser schluckte bei ihrem Überlebenskampf und ihrem Mörder im Todeskampf zu entkommen versuchte. Bis sie schließlich aufgab und im Pool unterging. Siebels versuchte, diese Gedanken zu verscheuchen, und konzentrierte sich auf seine Arbeit als Ermittler. »Wurde sie im Pool gefunden?«, wollte er wissen.
Читать дальше