1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 »Eine Aussage auf dem Präsidium wäre eine tolle Sache«, erwiderte Siebels. »So wie es aussieht, war er dabei, als Magdalena Liebig abgestochen wurde. Wir können auch noch nicht ganz ausschließen, dass er sie ermordet hat. Ich hoffe, Ihr Psycho-Kollege beeilt sich mit seiner Diagnose und verfrachtet ihn dann direkt weiter zu meinen Händen.«
»Da kommt Professor Rübsam.« Petri ging dem Mann im weißen Kittel entgegen. Er stellte dem Professor den Hauptkommissar vor und erkundigte sich nach dem Befinden des Patienten. Siebels schätzte den Professor auf Anfang fünfzig. Er hatte eine hohe Stirn, trug eine goldumrandete Brille auf seiner dünnen Nase und war von schlaksiger Gestalt.
»Da haben Sie uns ja ein Prachtexemplar geschickt«, stöhnte Rübsam. »Der Mann hat schwerwiegende Probleme. Ich habe ihn erst mal in die Neurologie rüberbringen lassen. Bevor ich ihn hier behandele und ihm Medikamente verabreiche, will ich die neurologischen Befunde vorliegen haben. Wahrscheinlich werden ihn die Kollegen aber dort in der Epilepsie-Spezialambulanz behalten.«
»Epilepsie?«, erkundigte sich Siebels.
»Ja. Und zwar in einer sehr ausgeprägten Form. Ich gehe davon aus, dass er schon lange darunter leidet und noch nicht in fachmännischer Behandlung war. Darüber hinaus hat er aber auch noch andere Probleme. Probleme psychischer Art. Er hat auf der Station einen schweren epileptischen Anfall erlitten. Als wir ihn unter Kontrolle gebracht hatten, fing er an, seine Stirn gegen die Wand zu schlagen. Zum Glück waren die Polizisten, die ihn gebracht haben, noch anwesend. Drei Mann mussten ihn auf das Bett drücken, bis wir ihn dort anbinden konnten. Er hat sich die Stirn blutig geschlagen und ich vermute, er hat es nicht zum ersten Mal getan.«
»Ich hoffe, die Beamten sind noch bei ihm?«, erkundigte sich Siebels.
»Davon gehe ich aus«, bestätigte Rübsam.
»Hat er was gesagt?«
»Ja. Aber fragen Sie mich nicht, was. Er spricht in verschiedenen Sprachen, aber meist nur in kurzen Satzfetzen. Er erregt sich sehr schnell und fällt dann urplötzlich wieder in eine Art Trance. Deswegen ist er auch für uns ein interessanter Fall. Aber die Behandlung der epileptischen Anfälle hat jetzt Vorrang.«
»Deutsches war nicht dabei?«, erkundigte sich Siebels und sah Schlimmes auf sich zukommen.
»Doch, einen Ihrer Kollegen beschimpfte er als Hurensohn, als wir ihn ans Bett gebunden haben. Haben Sie seine Identität schon klären können?«, wollte Rübsam wissen.
»Nein. Leider nicht. Vielleicht frage ich ihn einfach und hoffe, dass er auf Deutsch antwortet.«
»Falls er das nicht tut, habe ich noch einen Hinweis. Ich weiß aber nicht, ob Ihnen das weiterhilft.«
»Im Moment nehme ich jeden Hinweis dankbar entgegen.«
»Auf seinem Oberarm hat er eine Tätowierung. Sieht aus wie selbstgemacht, auf keinen Fall von einem professionellen Tätowierer. Es sind vier Buchstaben: O-C-S-O.«
Siebels notierte sich die vier Buchstaben. Rübsam verabschiedete sich. Siebels und Petri entschlossen sich, den Weg von der Psychiatrie zur Neurologie zu Fuß zurückzulegen.
20. Dezember 2007, 15:40 Uhr
Der Streifenwagen, der Till zur Liebfrauenkirche gefahren hatte, parkte direkt an der Hauptwache. Im vorweihnachtlichen Einkaufstrubel ging es im Zentrum von Frankfurt zu wie in einem Ameisenhaufen. Zu Tausenden strömten die Menschen auf die Zeil. Die Einkaufsmeile war das Mekka der Konsumenten aus dem Rhein-Main-Gebiet und sie pilgerten in Scharen herbei. Kaufhof, Karstadt, Woolworth und all die anderen hatten die Pforten geöffnet und die Schaufenster dekoriert. Aus den oberen Etagen der Bankentürme schauten die Herren des Geldes dem Treiben zu und rieben sich die Hände. Die Konsumenten waren wieder da, zusammengepfercht in Herden strömten sie durch die Konsumtempel. Die Kassen klingelten, aus den Lautsprechern rieselte leise der Schnee, der Aufschwung war auch unten angelangt und prallte zurück nach oben. Die Wirtschaft florierte und die Obdachlosen froren. Till liebte dieses Durcheinander von Arm und Reich. Der Unternehmensberater auf dem Weg zum Delikatessengeschäft, der Obdachlose mit einem Schild in der Hand. Habe Hunger. In der anderen Hand eine Flasche Weinbrand. Dazwischen der Mann aus Afrika, der lauthals in die Menge schrie. Glaube an Jesus und du wirst gerettet werden. Menschen in grünen Uniformen mit baumelnden Schlagstöcken an den Hüften mischten sich unter das Volk. Junge Mädchen trotzten der Kälte und zeigten nackte Hüften, Tierschützer rollten Plakate von verunstalteten Hunden aus. Männer mit schwarzen langen Bärten priesen islamische Schriften an, Frauen mit blonden Rastalocken ihre selbstgemalten Bilder von Frankfurt und New York. Die Hauptwache pulsierte, das Herz der Stadt schlug wild. Die U-Bahnen brachten minütlich Nachschub an Konsumenten, an den Parkhäusern leuchteten rote Schilder. Besetzt. Taxifahrer luden Leute in ihre Taxen und vollgepackte Tüten in die Kofferräume. Die Rolltreppen aus den U-Bahn-Schächten brachten die Neuankömmlinge ans Tageslicht, die Früheinkäufer standen bereits hoch oben auf den Aussichtsterrassen und tranken einen Glühwein.
Zwischen dem Kino und dem Sportpalast stand still und erhaben die Liebfrauenkirche. Till blieb einen Moment vor der braunen Holztüre stehen. Plakate gaben Termine für Orgelkonzerte und Gottesdienste bekannt. Die Tür öffnete sich. Eine alte, gekrümmte Frau kam heraus aus dem Haus der Stille. Till ging hinein. Die Holztür schlug langsam hinter ihm zu. Überrascht stellte er fest, dass er eine Schwelle übertreten hatte. Die Grenze zwischen Hektik und Ruhe. Still und andächtig saßen und standen die Menschen im Inneren des Gotteshauses. Kerzen brannten im Dunkeln, während auf der anderen Seite der Grenze bunte Leuchtreklamen die Stadt auch am Tag erhellten. Till fand eine Frau im Eingangsbereich, die anscheinend zum Personal gehörte. Katholische Schwesterntracht statt zu enger Hüfthosen. Sie gehörte zu den Nonnen, die sich hier um die Grenzgänger kümmerten. Obdachlose bekamen Mahlzeit, geisteshungrige besuchten Bibelkurse, Katholiken aus dem Ausland fühlten sich hier zuhause, Sünder bereuten im Beichtstuhl, und mittellose Witwen gaben ihren Beitrag zum Opferstock.
Till näherte sich behutsam der Schwester und fragte leise nach Bruder Jakobus.
»Bruder Jakobus befindet sich im Turmzimmer. Er führt ein seelsorgerisches Gespräch«, flüsterte die Schwester.
Till zeigte seinen Ausweis, der ihn als Beamten der Kriminalpolizei auswies. »Wird es lange dauern?«, fragte er. »Ich benötige eine Auskunft.«
»Warten Sie einen Moment. Ich sehe, was sich machen lässt.«
Fünf Minuten später kam sie mit einem vielsagenden Lächeln zurück. »Kommen Sie. Bruder Jakobus hat sein Gespräch gerade beendet. Er hat jetzt ein paar Minuten Zeit.«
Till folgte der Ordensschwester durch die Kirche. Die Schwestern hier entstammten dem Orden der Franziskanerinnen, die Brüder allerdings waren Kapuziner.
In der heilenden Kraft des Kräutertees erkannte er Gottes Nähe nun intensiver denn je. Voller Dankbarkeit brachte er dem Herrn ein Gebet entgegen. Er betete ehrfürchtig das große Dankgebet von David, den 103. Psalm.
Ich will dem Herrn von ganzem Herzen danken,
den heiligen Gott mit meinem Lied besingen!
Ich will den Herrn mit allen Kräften preisen
und niemals seine Freundlichkeit vergessen!
Er hat mir meine ganze Schuld vergeben,
von aller Krankheit hat er mich geheilt,
dem Grabe hat er mich entrissen
und mich mit Güte und Erbarmen überschüttet.
Durch seine Gaben sorgt er für mein Leben
und schenkt mir neue, jugendliche Kraft,
gleich einem Adler schwinge ich mich auf.
Er betete auch die restlichen Verse des Psalms und wiederholte sein Gebet drei Mal. Dann endlich fühlte er sich in der Lage, den braunen Ledereinband wieder zur Hand zu nehmen.
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