Ihre Ergebnisse deuteten darauf hin, dass der Wolf zuerst in Südostasien zum Hund wurde, in einer Gegend, wo die Menschen übrigens heute noch Hundefleisch essen.
Ich bin in Hanoi, Vietnam, gewesen, das in der betreffenden Region liegt, und habe dort eine Straße besucht, in der sich zahlreiche Restaurants aneinanderreihen, die sich auf Hundefleisch spezialisiert haben. Einige Vietnamesen machen sich einen Spaß daraus, Europäer hier hinzuführen und über diese Essgewohnheit zu scherzen, weil sie sich durchaus der Tatsache bewusst sind, dass dies ein absolutes Tabu in unserer Kultur berührt. Der vietnamesische Journalist, der mich in Hanoi begleitete, erzählte, dass er und seine Bekannten genau wie Europäer Familienhunde hielten, zu denen sie eine starke gefühlsmäßige Bindung entwickelten, dass sie aber auch Hundefleisch äßen. Das sind schlicht zwei verschiedene Blickwinkel. Ähnliches zeigen auch die Ausgrabungen aus dem steinzeitlichen Europa. Einige Hunde sind offenbar geschätzte Familienmitglieder gewesen, die mit wertvollen Gaben geehrt wurden. Andere Hundefossilien weisen Kratzspuren von Werkzeug auf – die durchaus ein Hinweis darauf sein könnten, dass Menschen ihr Fleisch gegessen haben. Beide Arten von Funden traf man auch am Hornborgasee in Schweden an, der älteste ist 10.000 Jahre alt.
Peter Savolainens frühe Schlussfolgerung, dass die Wiege des Hundes in Südostasien stand, ist heute stark umstritten, nicht zuletzt seit andere Forscher DNA von sehr alten fossilen Hunden und Wölfen untersucht haben. Mittlerweile führen mindestens genauso deutliche Spuren nach Europa.
Zwar könnte Savolainen durchaus recht haben mit der Annahme, die erste Aufgabe des Hundes sei es gewesen, als Nahrungsreserve für den Menschen zu dienen. Doch könnte der Hund ebenso gut Gesellschafter und Spielkamerad, Wärmedecke, Transportmittel, Wachhund oder Jagdhund gewesen sein. Das eine muss das andere nicht ausschließen.
Die erste Aufgabe des Menschen war es zweifellos, die Hunde mit Nahrung zu versorgen.
Wir sollten aber auch die Liebe nicht unterschätzen. Die Gefühle, die heutige Hundebesitzer für ihre Tiere hegen, waren sicherlich bereits in der Eiszeit bekannt: Schließlich wurde meinen Verwandten in Bonn-Oberkassel – dem Mann und der Frau mit der Haplogruppe U5b1 – vor 14 500 Jahren ein Hund mit auf ihren Weg in die ewigen Jagdgründe gegeben.
HUND, MANN UND FRAU AUS DEM GRABin Bonn-Oberkassel lebten in einer Zeit großer Veränderungen. Nur wenige Hundert Jahre vorher hatte Europa eine Wärmeperiode erlebt, die das Ende der Eiszeit ankündigte.
Die Kälte ging zurück. Schon seit mehreren Tausend Jahren taute die Erde ganz allmählich auf. Ihre Umlaufbahn um die Sonne hatte sich den sogenannten Milankovic-Zyklen entsprechend verändert. Immer mehr der Sonnenenergie erreichte die Erde. Als Eis und Schnee schmolzen und dunkles Wasser und dunklen Erdboden freigaben, konnte die Erde noch mehr Sonnenstrahlen absorbieren. Im Meer und im Boden gespeichertes Kohlendioxid und Methan wurde freigesetzt und beschleunigte den Erwärmungsprozess zusätzlich.
Außer der großflächigen Erwärmung, die die ganze Erde betraf, erlebten einzelne Gegenden regional begrenzte, aber dramatische Temperaturveränderungen. Innerhalb von nur ein paar Hundert Jahren – vielleicht sogar noch schneller – stieg die Durchschnittstemperatur in Nordwesteuropa um mehrere Grade. Das ist vermutlich auf veränderte Strömungsverhältnisse im Atlantik zurückzuführen.
Es erscheint uns wie ein Segen für die eiszeitlichen Menschen, dass das ehemals so raue Klima sehr viel milder wurde, doch bin ich mir nicht sicher, dass sie selbst es auch so empfanden. Der Umschlag kam so plötzlich, dass sie keine Zeit hatten, sich daran zu gewöhnen. Die Eiszeitjäger sahen sich genötigt, innerhalb weniger Generationen eine Lebensweise hinter sich zu lassen, an der ihre Vorfahren mehrere Jahrtausende lang festgehalten hatten.
Auf längere Sicht bedeutete das wärmere Klima deutlich verbesserte Lebensbedingungen. Höhere Temperaturen und steigende Niederschlagsmengen führten zu vermehrtem Pflanzenwachstum und damit auch zu reicherem Tierbestand. Dadurch konnten mehr Menschen überleben und Kinder bekommen. Am Ende der Eiszeit erlebte Europa ein kräftiges Bevölkerungswachstum, wie DNAAnalysen gezeigt haben.
Doch die Menschen mussten nun entweder lernen, die neuen Tierarten zu jagen, deren Lebensraum die jungen Wälder waren, oder den Rentieren auf deren Wanderungen nach Norden und Osten folgen.
Wer den Rentieren von Bonn-Oberkassel aus auf direktem Weg nach Norden folgte, kam nach Doggerland – ein Land, das es nicht mehr gibt. Heute kennen wir Dogger als Teil der Nordsee und aus dem Seewetterbericht. Doch Doggerland, das jetzt auf dem Grund des Meeres liegt, erstreckte sich einst vom heutigen Dänemark bis nach Schottland. Zur Zeit ihrer größten Ausdehnung – auf dem Höhepunkt der Eiszeit vor ungefähr 20.000 Jahren – reichte seine Landmasse wahrscheinlich sogar bis hinauf zu den Shetlandinseln. Zwischen Doggerland und der norwegischen Küste verlief ein schmaler, tiefer Graben, heute Norwegische Rinne genannt. In der Mitte zwischen den Shetlandinseln und der heutigen norwegischen Stadt Bergen lagen mehrere Erhebungen, die später den Namen Vikingbank erhielten.
Zeitweise könnte Doggerland sogar einer der besten Lebensräume im ganzen damaligen Europa gewesen sein – es besaß fruchtbare Böden, Süßwasserflüsse und eine reiche Tierwelt.
In einer Vitrine im Nationalmuseum in Kopenhagen betrachte ich Werkzeuge und Kunstgegenstände aus Knochen und Horn, die vor vielen Tausend Jahren von den Menschen in Doggerland hergestellt wurden. Einige dieser Artefakte haben sich in Fischernetzen verfangen, andere wurden an dänischen Stränden angespült. Unterwasserarchäologen haben im Meer nach untergegangenen Siedlungen gesucht.
Schon im 19. Jahrhundert fanden Austernfischer in den Gewässern vor England eigenartige Knochen von Mammuts und Rentieren. Im Jahr 1931 zog der englische Trawler „Colinda“ eine mit Widerhaken versehene Speerspitze aus Horn aus dem Wasser, die auf ein Alter von fast 12.000 Jahren datiert wurde. Seitdem haben Fischer, Taucher, Archäologen und Geologen viele Gegenstände entdeckt, die davon erzählen, wie die Menschen damals in jenem Land lebten, das jetzt Meeresboden ist.
Doch die neuesten Erkenntnisse über das versunkene Land kommen aus einer anderen, unerwarteten Ecke.
Ich fahre nach Bradford in England, um den Archäologen Vincent Gaffney zu interviewen. Er leitete ein umfangreiches Projekt, auf dem unter anderem das 2009 erschienene Buch Europe’s lost world – the rediscovery of Doggerland basiert. Es ist die bislang ausführlichste Darstellung des Themas.
Hätte ich diese Reise vor 10.000 Jahren unternommen, wäre ich trockenen Fußes von Schweden nach Bradford gelangt. Jetzt fliege ich stattdessen nach London und nehme von da aus den Zug in Englands Norden. Bradford und Leeds sind Zwillingsstädte. Die umgebende Landschaft mit ihren grünen Hügeln ist wunderschön, doch die Innenstadt von Bradford macht einen beklemmenden Eindruck. Die Blütezeit der Textilindustrie ist lange vorbei. Kaum ein Besucher verirrt sich heute noch hierher. Eine Frau im Zug erkundigt sich verwundert, was ich in Bradford will.
Die Universität der Stadt scheint jedoch einen guten Ruf zu haben. Es stellt sich heraus, dass Vincent Gaffney nach einem Konflikt mit seiner früheren Universität in Birmingham hier eine Stellung bekommen hat.
Eigentlich hatten wir uns für den Vormittag verabredet, doch wird Gaffney kurzfristig zu einem wichtigen Meeting in seiner neuen Universität gerufen. So treffen wir uns spätabends an der Hotelbar. Es wird ein ungewöhnlich chaotisches Interview. Ich trinke zwei kleine Gläser Cider, während Vincent drei große Bier kippt. Er ist um die Sechzig, rothaarig und schon zu Beginn des Abends sehr lebhaft. Je weiter der Abend fortschreitet und je mehr Gläser geleert werden, desto schwieriger wird es für mich, seinen Redefluss in geordnete Bahnen zu lenken. Doch hinter seinen Einfällen und wilden Assoziationen verbirgt sich brillante und richtungsweisende Wissenschaft.
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