Und Menschen.
Interessanterweise erlebte die menschliche Kultur gerade damals eine große Blüte. Das kann man im großen Museum von Les Eyzies gut nachvollziehen.
Das Musée Nationale de Préhistoire in Les Eyzies-de-Tayac ist ein großes, kostspieliges Museum, das vom französischen Staat unterhalten wird. Genau wie die Pension Cro-Magnon ist das Gebäude teilweise in den hellen Kalkfelsen hineingebaut.
Eine ganze Etage des Museums ist eiszeitlichen Werkzeugen vorbehalten – vor allem aus Stein, aber auch aus Horn, Knochen und Elfenbein –, die systematisch nach Periode und Kultur geordnet die Vitrinen füllen. Für mich als Nichtfachfrau ist es schwierig, den Übergang vom Neandertaler zum modernen Menschen und vom Aurignacien zum Gravettien zu erkennen. Doch der Übergang vom Gravettien zum Solutréen vor ungefähr 20.000 Jahren springt auch dem unbedarftesten Betrachter ins Auge.
Die Werkzeuge aus dem Solutréen sind völlig anders und sehr viel weiter entwickelt. Sie sind papierdünn, blank, scharf und bildschön. Einige sind so fein gearbeitet und übertrieben groß, dass sie kaum für praktische Arbeiten geeignet waren, sondern Ziergegenstände gewesen sein müssen. Der Feuerstein ist von besonders guter Qualität und wurde oftmals aus Felsen geholt, die fünfzig Kilometer entfernt lagen. Wahrscheinlich wurden diese Werkzeuge von geübten Spezialisten hergestellt. Diese Spitzen in Form von Weidenblättern aus dem Stein herauszuarbeiten, war sicherlich keine Aufgabe für jedermann.
Demgegenüber schein fast jeder seine eigenen Speerschleudern aus Horn hergestellt zu haben. Das ist an den laienhaften Formen und den eingeritzten Bildern zu erkennen. Speerschleudern waren eine Innovation, die die Jagd in der offenen Landschaft der Eiszeit vereinfachte. Mit ihrer Hilfe konnten die Jäger das Hebelprinzip nutzen und ihre Speere mit größerer Kraft schleudern.
Während des Solutréens tauchen erstmals auch Nähnadeln in Westeuropa auf. Die Vitrinen des Museums zeigen, wie die Menschen sie Schritt für Schritt aus dem Stoßzahn eines Mammuts herstellten. Ältere Funde von Nähnadeln sind wie erwähnt nur aus Russland bekannt.
Schon seit langer Zeit benutzen die Menschen Kleidung. Mark Stoneking vom Max-Planck-Institut in Leipzig hat sich einer unkonventionellen Methode bedient, um das Alter von Kleidungsstücken zu berechnen: der DNA-Analyse von Kleiderläusen. Ein Vergleich verschiedener Familien der Kleiderlaus mit Kopfläusen und Läusen von Schimpansen erlaubte es ihm, die Dauer der Bekleidungsgeschichte auf ungefähr 107.000 Jahre festzusetzen. Zwar weist die Berechnung Abweichungen von mehreren Zehntausend Jahren auf, doch kann er präzisere Angaben machen als andere Forscher vor ihm. Mark Stonekings Analysen der Läuse-DNA belegen auch, dass der Mensch bereits in Afrika begonnen hatte, Kleidung zu benutzen.
An vielen Orten haben Archäologen Steinschaber gefunden, die vermutlich der Bearbeitung von Tierhäuten für Kleidung dienten. Auch die Neandertaler beherrschten diese Technik. Dieses Wissen war die Voraussetzung für ein Leben außerhalb der Tropen. Klei dung war mit Sicherheit in kühleren Gegenden Afrikas und des Nahen Ostens ebenso notwendig wie für die ersten Einwohner Europas.
Sich in einen Fellmantel zu hüllen und mit einer Ahle einige Löcher zu stechen, um zwei Lederstücke zu einer Tunika zusammenzufügen, ist eine Sache. Etwas ganz anderes ist es, mithilfe von Nadeln Anoraks mit pelzgefütterten Kapuzen, gut sitzende Beinkleider und wasserdichte Stiefel zu nähen.
Nähnadeln mit Öhr mögen uns heute nicht besonders imponieren, doch während der kältesten Perioden der Eiszeit bedeuteten sie den Unterschied zwischen Leben und Tod. Dichte und warme Kleidung muss in dem unbarmherzigen Klima entscheidend gewesen sein, und eine Nadel mit Öhr erleichterte die Arbeit.
Außerdem konnte man mit den Nadeln auch Netze und Reusen herstellen. Damit war man bei der Jagd flexibler und es konnte jeder mithelfen, unabhängig von seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Die Nähnadel könnte durchaus eine der bedeutendsten Erfindungen der Menschheit gewesen sein.
Offenbar machten die Menschen gerade während der kältesten Periode der Eiszeit hier im Südwesten Europas einen beachtlichen technologischen Entwicklungsschritt.
Die beste Erklärung dafür liefert mir Jiři Svoboda aus Brünn. Er glaubt, dass Menschen aus nördlicheren europäischen Gegenden von der Kälte nach Süden getrieben wurden. Die verschiedenen Gruppen trafen in der neuen, kalten und entbehrungsreichen Umgebung aufeinander und taten ihr Wissen zusammen. Dieses Konglomerat aus Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen war eine ausgezeichnete Basis für ihre Weiterentwicklung und für neue Erfindungen.
Auch die DNA-Forschung stützt die These, dass Menschen aus dem Norden Europas während der kältesten Periode der Eiszeit, also vor 25.000 bis 18.000 Jahren, Schutz in wärmeren Gegenden suchten. Ihre Zufluchtsorte lagen verstreut im südlichen Europa, am Schwarzen Meer, im heutigen Griechenland, in Italien und sogar weiter östlich in Sibirien.
Ich habe Grund zu der Annahme, dass meine Verwandten in direkter mütterlicher Linie die kältesten Jahre der Eiszeit eben hier in der Nähe von Les Eyzies-de-Tayac, in Südwestfrankreich oder Nordspanien verbracht haben.
Die Untersuchungsergebnisse des isländischen Unternehmens Decode haben mir verraten, dass ich – wie ungefähr jeder zehnte Europäer – zur Gruppe U5 gehöre. Doch im Sommer begegne ich einigen schwedischen Genealogen, die sich für das Potenzial von DNA-Analysen interessieren. Wir schauen uns meine Ergebnisse von Decode näher an und finden heraus, dass ich zu einer der zwei Untergruppen von U5 gehöre, nämlich zur Gruppe U5b. Diese Gruppe wird wiederum in drei Untergruppen unterteilt, deren erster ich angehöre: U5b1.
Vieles deutet darauf hin, dass U5b1 innerhalb der Gruppe von Menschen entstand, die auf dem Höhepunkt der Eiszeit Zuflucht in Südwesteuropa suchten, also während des Solutréen.
Einen wichtigen Anhaltspunkt dafür liefert die Antwort auf die Frage, wo heute die meisten Varianten dieser Gruppe auftreten. Im Fall von U5b1 scheint die Variationsbreite in den Gegenden um die Pyrenéen am größten zu sein, also in Südwestfrankreich und in Nordspanien.
Ein weiteres, ungewöhnliches Forschungsergebnis wurde 2005 veröffentlicht. Eine Gruppe italienischer Wissenschaftler konnte nachweisen, dass eine Untergruppe von U5b1, die sich bei fast der Hälfte aller Angehörigen des Volks der Samen findet, nah mit einer bei den Berbern in Nordafrika vorkommenden Untergruppe verwandt ist. Ihre Verwandtschaftslinien scheinen sich vor mehreren Tausend Jahren getrennt zu haben. Die Nachricht rief großes Erstaunen hervor, da zwischen Nordafrika und Nordskandinavien viertausend Kilometer liegen. Die wahrscheinlichste Erklärung dafür ist, dass Menschen mit U5b1 in verschiedene Richtungen wanderten. Einige wandten sich nach Norden, als die Eiszeit ihrem Ende zuging, und einige von deren Nachkommen erreichten schließlich das nördliche Skandinavien. Andere wiederum wanderten südwärts und über die Straße von Gibraltar nach Afrika.
Ein drittes Element in der Beweiskette sind DNA-Analysen fossiler menschlicher Knochen aus Westeuropa. Bislang existieren nur wenige solcher Untersuchungen in ausreichender Qualität und diese wurden an Proben aus einer Zeit nach dem Solutréen vorgenommen. Doch selbst diese Analysen stützen bis zu einem gewissen Grad die These, dass U5b1 im südwestlichen Europa verbreitet war, als die Kälte der Eiszeit ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Eine der besten Fundstätten für das Solutréen ist Laugerie Haute. Ein halbstündiger Spaziergang bringt mich von meiner Pension in Cro-Magnon dorthin.
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