Viele der Parallelen, die Jean Clottes und David Lewis-Williams beschreiben, sind in der Tat auffällig.
Im schamanistischen Weltbild ist das Universum gewöhnlich in drei Ebenen unterteilt: in die Erde, wo wir gewöhnlichen Sterblichen uns aufhalten, den Himmel sowie die Unterwelt und/oder die dunklen unterirdischen Wasser. Einige Tiere haben Zugang zum Himmel oder zur Unterwelt. Wasservögel können zum Beispiel alle drei Ebenen erreichen, weil sie sowohl schwimmen als auch fliegen können, und Schlangen können in die Unterwelt kriechen. Diese Tiere können den Schamanen auf ihrer Reise in die Welt der Geister helfen.
Mithilfe der Höhlen könnten sie sich der Unterwelt und damit den Geistern und den Toten genähert haben.
David Lewis-Williams beschreibt die Felswände in den Höhlen als Membran – als Grenze zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister. Er glaubt, dass die Künstler die Bilder buchstäblich auf die Wand projiziert sahen und im Großen und Ganzen nur noch ihre inneren Bilder auszumalen brauchten. Sie könnten sich in Trance versetzt haben – durch Schlafentzug, Drogen, rhythmische Musik und wilden Tanz, mithilfe des hohen Gehalts an Kohlendioxid in einigen der Höhlen oder auch nur durch den Mangel an Eindrücken, der durch längeres Alleinsein in einem dunklen Raum entsteht. Sie befanden sich vielleicht nicht in Trance, während sie malten, aber sie gaben Bilder wieder, die sie in der Trance gesehen hatten, meint Lewis-Williams.
Die dritte Säule der Argumentation von Jean Clottes und Lewis-Williams ist die umstrittenste. Die beiden Wissenschaftler sind der Überzeugung, dass die frühe Kunst ihren Ursprung nicht nur in den Trancezuständen der Schamanen hatte, sondern vor allem in der besonderen Funktionsweise des menschlichen Gehirns bei Halluzinationen und Psychosen.
So seien die Zickzackmuster, die auf 70.000 Jahre alten Steinen in der südafrikanischen Höhle Blombos entdeckt wurden, eine Darstellung der Lichtphänomene, die viele Menschen bei einem Migräneanfall sehen. Laut Clottes und Lewis-Williams sind diese Lichtwahrnehmungen eine Form schwacher Halluzinationen. Die Mammuts, Pferde und Bisons in den Höhlenmalereien wären demnach Repräsentationen von schwereren Halluzinationen.
Ich persönlich stehe dieser Lesart skeptisch gegenüber. In meinen Augen ist gewöhnliche menschliche Kreativität – womöglich durch Trancezustände verstärkt – als Erklärung für die Bilder schon ausreichend.
EINIGE MEINER VERWANDTEN BLIEBEN IN SPANIENund Südwestfrankreich. Andere aus der mütterlichen Abstammungslinie zogen weiter nach Süden, über Gibraltar nach Afrika: an die Küsten, in die Berge der Kabylei und bis in den Senegal. Dort trifft man noch heute auf ihre Nachkommen. Das wissen wir dank des Vorkommens von Mitochondrien der Haplogruppe U5b1 in diesen Gegenden. Sie sind zwar selten, aber es gibt sie.
Wieder andere wanderten stattdessen nordwärts, nachdem die strengste Kälte vorbei war. Sie folgten den Rentieren, die ihre wichtigste Jagdbeute waren.
Einige zogen entlang des Flusses, den wir heute Rhein nennen, geradewegs nach Norden.
Vor ungefähr 14 700 Jahren wurde das Klima in Nordeuropa deutlich milder. Bäume wie Birken, Weiden und Espen eroberten die Steppe. In Laubwäldern dieser Art fühlen sich Rentiere nicht wohl, denn dort gibt es für sie im Winter nichts zu fressen. Meine Verwandten im Rheintal waren daher gezwungen, sie rasch durch andere Beutetiere wie Elche, Hirsche und Biber zu ersetzen, was für sie eine große Umstellung bedeutete.
Zwei meiner Verwandten starben in Höhe der heutigen Stadt Bonn: ein fünfzigjähriger Mann und eine Frau um die Zwanzig. Ihre Begleiter hoben ein Grab aus, betteten sie dicht nebeneinander hinein und bestreuten sie reichlich mit rotem Farbpulver. Als Grabbeigaben schenkten sie den Toten eine feine Haarnadel aus Knochen, ein verziertes Stück Hirschgeweih und einen rot angemalten Hirschzahn.
Außerdem wurde ihnen ein Hund auf den Weg in das Totenreich mitgegeben. Das war sicherlich ein großes Opfer, das größte, das man bringen konnte.
Die Grabfunde mit Namen Bonn-Oberkassel sind um die 14 500 Jahre alt und stammen somit aus einer Zeit direkt nach dem Ende der Eiszeitkultur des Magdalénien. Analysen der mitochondrialen DNA der beiden Personen ergaben, dass sie in mütterlicher Linie der Gruppe U5b1 angehörten.
Das ist die Gruppe, zu der auch ich gehöre. Wir hatten also vor mehreren Jahrtausenden eine gemeinsame Vorfahrin. Sie waren Kinder und Enkel von „Ursula“, genau wie ich.
Das Interessanteste an Bonn-Oberkassel ist allerdings nicht die Tatsache, dass entfernte Verwandte von mir dort begraben wurden. Der wichtigste Fund ist der Hundeschädel.
Es ist der älteste Fund eines Hundes, über den bei allen Forschern Einigkeit herrscht. Der Schädel erfüllt alle Anforderungen an einen frühen Hund. Das Aussehen stimmt, die Zeit stimmt, der Ort stimmt und die DNA des Hundes stimmt ebenfalls.
Die Frage, wann der Wolf zum Hund wurde, war viele Jahrzehnte lang Gegenstand hitziger Debatten. Es geht dabei auch um viel Prestige. Der Hund war unser erstes Haustier und wird bis heute der „beste Freund des Menschen“ genannt.
Anfangs versuchten Archäologen Hund und Wolf nur nach dem Aussehen ihrer fossilen Knochen zu unterscheiden. Dabei gingen sie in erster Linie davon aus, dass Hunde, die viele Generationen lang in der Obhut des Menschen gelebt hatten, kleiner und zierlicher geworden sein und anders aussehen müssten als Wölfe.
Auf Grundlage dieser Definition lassen sich viele Hunde-Kandidaten ausmachen, deren älteste ungefähr 30.000 Jahre alt sind. Fossile Funde gibt es aus Russland, der Ukraine, Tschechien, der Schweiz und Belgien. Einige der angeblichen frühen Hunde stammen von dem Grabungsplatz Dolní Veˇstonice in Tschechien, wie ich im Kapitel „Die Mammuts in Brünn“ erwähnt habe.
Während der letzten zwanzig Jahre haben sich Genforscher in die Debatte eingeschaltet und sich dabei auf mehr oder weniger umfassende DNA-Analysen und mehr oder weniger ausgereifte Berechnungsmethoden gestützt. Ihre Resultate wiesen in verschiedene Richtungen. Sie sind sich bis heute nicht einig, um es vorsichtig auszudrücken. Den gegenwärtigen Kenntnisstand könnte man folgendermaßen zusammenfassen:
Die Vorgänger der heutigen Hunde scheinen vor mindestens 15.000 Jahren gezähmt worden zu sein, vielleicht sogar schon viel früher. Wahrscheinlich wurde der erste Hund irgendwo in Europa oder Sibirien geboren, doch auch China kann als Geburtsort nicht ausgeschlossen werden.
Natürlich ist es möglich, dass Menschen bereits früher versucht haben, Wölfe zu zähmen. Im Altaigebirge in Sibirien und der Goyet-Höhle in Belgien wurden 30.000 Jahre alte Fossilien gefunden, die hundeähnlich aussehen und durchaus Belege für derartige Zähmungsversuche sein könnten. Dennoch scheint es sich hier nicht um den Ursprung der heutigen Hunde zu handeln, sondern eher um genetische Sackgassen.
Alle heute lebenden Hunde, auch Basenjis in Afrika, verwilderte Dingos in Australien, blauäugige sibirische Huskies, wohlfrisierte Zwergpudel und verspielte Labradore, scheinen auf eine kleine Gruppe von Wölfen in Europa oder Asien zurückzugehen. Diese Wölfe sind wahrscheinlich schon vor langer Zeit ausgestorben, was die Ermittlung des Verwandtschaftsgrades erschwert. In Vergleichen von Zehntausende Jahre alter DNA fossiler Wölfe mit fossilen und heute lebenden Hunden tritt das Muster deutlicher hervor.
Dass zahme Hunde sich gelegentlich mit Wölfen gepaart haben, stellt für die Forscher ein Problem dar. Das wird zum Beispiel in der DNA von Jagdhunden in Skandinavien und halbwilden Hunden in China sichtbar. Solche Kreuzungen machen das Bild unscharf.
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