Anastasios war sechzig Jahre alt, als er den Thron bestieg, und die Kaiserin, Zenons Witwe, ungefähr vierzig, also hätten sie vielleicht gerade noch einen Thronfolger hervorbringen können, doch das taten sie nicht (ob gezielt oder ob es einfach nicht gelang, wissen wir nicht, aber ich vermute Ersteres). Dass Anastasios keinen eigenen Erben hatte, hinderte ihn jedoch nicht daran, enge Familienangehörige auf prominente Positionen zu setzen. Er hatte drei Neffen, Kinder seiner zwei Schwestern: Pompeius, Probus und Hypatius, der sein Favorit war. Pompeius erhielt das Konsulat für das Jahr 501 und später, gegen Ende von Anastasios’ Herrschaft, ein wichtiges Militärkommando (wahrscheinlich als Oberbefehlshaber der thrakischen Feldarmee). Probus war 502 Konsul, doch das blieb bis zur Herrschaft Justins sein einziger hoher Posten. Hypatius hingegen war bereits während des Isaureraufstands ein bedeutender Militärkommandant, und er war der erste Neffe des Kaisers, der ein Konsulat erhielt (500); in den ersten zwei Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts erhielt er diverse hochrangige Feldherrnposten: 503 und noch einmal zehn Jahre später war er magister militum praesentalis, dazwischen Oberbefehlshaber der thrakischen und der östlichen Feldarmee.
Zweifellos war er bei seinem Onkel besonders wohlgelitten, und zweifellos sah sich Hypatius selbst als rechtmäßigen Thronfolger – dieser Ehrgeiz sollte noch ganz deutlich zutage treten, später, Anfang der 530er-Jahre. Doch Anastasios unternahm keinerlei Schritte, seinem Lieblingsneffen die Thronfolge zu sichern. Der Kontrast zu Justin, der in den 520er-Jahren Justinian allmählich zu seinem Nachfolger aufbaute (525 war Justinian Caesar, 527 Augustus), ist deutlich. Anastasios’ Verhalten wird normalerweise – und korrekterweise, wie ich finde – so interpretiert, dass ihm das nötige politische Kapital fehlte, um einen solchen Schritt zu wagen, ohne dass er auf erbitterten Widerstand seitens der anderen Interessenten an seinem Hof gestoßen wäre. 8Sein Verhalten spiegelte teilweise die Art und Weise wider, wie er selbst auf den Thron gekommen war, wie auch die vielen unschönen Vorfälle während seiner Regierungszeit.
Als Kandidat für den Thron war Anastasios von vornherein ein Kompromiss gewesen. Ein sechzigjähriger Beamter bei Hofe ohne Kinder und mit wenig Zeit, noch welche zu zeugen: Der Grund, weshalb sich alle auf so einen Kandidaten einigten, lag wohl in erster Linie darin, dass man Longinus auf dem Thron verhindern wollte. Wie bereits erwähnt, starb Anastasios erst mit 87 Jahren und übertraf damit bei Weitem die damalige Lebenserwartung. Genau wie heute, wenn ein hochbetagter Kardinal zum Papst gewählt wird, gingen Anastasios’ Hintermänner im Jahr 491 wahrscheinlich davon aus, dass er es ohnehin nicht mehr allzu lange machen würde – eine kurzfristige Lösung für das Isaurer-Problem, weniger riskant, als wenn man eine Dynastie auf den Thron setzte, die den kaiserlichen Purpur auf lange Sicht nicht mehr aus den Händen geben würde (wie geschehen im Falle der Theodosianischen Dynastie, die Ende des 4. bis Mitte des 5. Jahrhunderts regiert hatte). Dass Anastasios so lange an der Macht blieb, viel länger, als irgendjemand hätte erwarten können, brachte es mit sich, dass er die Zügel der Macht im Laufe der vielen Jahre immer fester in Händen hielt. Doch es waren unruhige Zeiten – auch nach der Niederschlagung des Isaureraufstands kämpfte Anastasios den größten Teil seiner Herrschaft buchstäblich ums Überleben. Das Reich stand unter Druck, und zwar gleich aus zwei verschiedenen Richtungen.
Sein erstes Problem nach einer kurzen Ruhepause nach dem Aufstand in Isaurien war der erneute Krieg mit Persien im zweiten Jahrzehnt seiner Regierung. Der Aufstieg Persiens zur Supermacht Mitte des 3. Jahrhunderts hatte den Kontext, in dem das Römische Reich strategisch operierte, grundlegend verändert und dafür gesorgt, dass sich die politisch-administrativen Strukturen des Imperiums grundlegend veränderten (siehe Kapitel 2). Dank des Truppenausbaus (und der dazu nötigen Steuerreform) hatten sich die Katastrophen des 3. Jahrhunderts ab den 290er-Jahren nicht mehr in nennenswerter Weise wiederholt, obwohl es bis in die 370er-Jahre hinein immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Imperien kam. An diesem Punkt allerdings änderte sich das Muster: Hatten die zwei Großmächte bislang keine Gelegenheit ausgelassen, ihrem Erzrivalen Ärger zu bereiten, versuchten nun beide, die Auswirkungen ihrer Konflikte möglichst gering zu halten, auch wenn es solche Konflikte natürlich immer noch gab. Zum Beispiel im Jahr 456, als sich der römische Klientelkönig von Lasika am östlichen Ende des Schwarzen Meers immer mehr von Konstantinopel bevormundet fühlte und die Perser um Hilfe bat, um sich größere Unabhängigkeit zu verschaffen. Doch die Perser nutzten diese Chance, den Römern zu schaden, nicht, und so musste der König von Lasika seine Krone an seinen Sohn übergeben und selbst nach Konstantinopel gehen, um sich zu erklären. Ein so kooperatives Agieren zwischen den beiden Imperien bei einer möglichen Streitfrage war im 5. Jahrhundert absolut die Regel. 9
Man sollte an dieser Stelle allerdings darauf hinweisen, dass diese lange kooperative Phase mitnichten ganz freiwilliger Natur war, sondern den notorisch verfeindeten Großmächten durch äußere Umstände aufgezwungen wurde. Aus römischer Sicht waren zwei bedeutende strategische Rückschläge in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts für diesen augenscheinlichen Frieden ursächlich. Der erste war Julians fehlgeschlagener Persienfeldzug im Jahr 363, der dazu führte, dass Rom den Persern Nisibis und eine Reihe römischer Territorien jenseits des Tigris überlassen musste. Der zweite Rückschlag war die Teilung Armeniens unter Kaiser Theodosius I. in den 380er-Jahren, bei der etwa drei Viertel des Staates in ein persisches Protektorat (Persarmenien) umgewandelt und damit der römischen Einflusssphäre entzogen wurden (siehe Karte 1). 10
Dass diverse römische Regime des 5. Jahrhunderts diese beiden Rückschläge hinnahmen, ohne zu Vergeltungsmaßnahmen auszuholen, lag allerdings nicht etwa daran, dass unter den Kaisern plötzlich die Großzügigkeit ausgebrochen wäre. Vielmehr stellte der steile Aufstieg der Hunnen in Mittel- und Osteuropa eine völlig neue Gefahr für die Grenzen Ostroms dar, und folglich waren für irgendwelche »unnötigen« Streitigkeiten mit Persien einfach keine militärischen Kapazitäten mehr übrig.
Die Perser wiederum hatten im Grunde alles erreicht, was sie sich vernünftigerweise hatten erhoffen können, und auch sie sahen sich einer neuen Bedrohung ausgesetzt, in Form der Steppenvölker im Norden und Osten. Vor allem die sogenannten Hephthaliten oder »weißen Hunnen«, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts von ihrer ursprünglichen Machtbasis (wahrscheinlich) im Nordwesten Afghanistans aus Sogdien und Chorasan eroberten, entwickelten sich zu einem äußerst aggressiven Nachbarn. Ob und auf welche Weise sie tatsächlich mit den Hunnen verwandt waren, die in beiden Teilen der römischen Welt für so viel Unruhe sorgten, wird nach wie vor kontrovers diskutiert.
Der entscheidende Punkt ist, dass die Hephthaliten, als sie Ende des 5. Jahrhunderts ihre Machtbasis erweiterten, die Perser mehrfach besiegten. Die schlimmste Niederlage erlitten die Perser bei der Schlacht von Herat im Jahr 484, die für sie ähnlich katastrophal verlief wie für die Römer damals die Schlacht von Adrianopel; der persische Großkönig Peroz (459–484) fand bei Herat den Tod. 11
Beide Reiche hatten mithin gute Gründe, im 5. Jahrhundert keinen neuen Krieg miteinander vom Zaun zu brechen, und das änderte sich auch nicht über Nacht. Zur Zeit Zenons baten die Perser Konstantinopel sogar um Unterstützung gegen die Hephthaliten, und er scheint ihnen tatsächlich bisweilen unter die Arme gegriffen zu haben. In den 490er-Jahren forderten die Perser aber immer mehr. Doch selbst als der neue persische Herrscher Kavadh die Hephthaliten dafür bezahlte, ihm zurück auf den Thron zu verhelfen – eine unerhörte Provokation –, blieb Anastasios’ Regime dem Geist der friedlichen Zusammenarbeit treu, die das Nebeneinander der Großmächte im 5. Jahrhundert geprägt hatte. Er weigerte sich sogar, eine Revolte der christlichen Persarmenier in den 490er-Jahren zum Anlass zu nehmen, die nun immer dreisteren Nachbarn zur Rechenschaft zu ziehen. Doch zu Beginn des 6. Jahrhunderts war Kavadh schließlich so weit, dass er Rom nicht mehr nur drohte, sondern tatsächlich den Krieg erklärte. 12
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