Die rollte genervt die Augen. »Ach, komm, Dad, weißt du nicht mehr? Die Brieffreundschaftsaktion vorletztes Jahr mit der Schule in London?«
»Und was is’n da drin?«, wollte er wissen. Seinem Gesicht nach zu urteilen, dachte er darüber nach, das Paket aufzureißen, um selbst nachzusehen.
»Du weißt, wie ich über die von außerhalb denke«, brummte er missmutig.
»Dad … bitte …«
»Wie wir alle über die von außerhalb denken!« Er sah den Postboten mit seinen stechenden Augen warnend an.
Chuck wich dem Blick des schweren Eins-neunzig-Mannes aus, sah zu Boden und hob die Hände. »Bin nur der Postbote, Sir. Liefere Pakete aus und nehm andere mit …« Er trat zum Lieferwagen zurück und tat beschäftigt. »Geht mich ansonsten nichts an, was hier geschieht.«
Bob nickte zufrieden und widmete sich seiner Tochter. »Was schreibst du über uns denn so, hm? Von dem Leben hier, der Weite des Landes … den Schweineställen? Sicher nicht von den Maisfeldern …«
Vivian knetete von Angst ergriffen ihre Finger. Ein falsches Wort, und sie würde es bitter bereuen. »Wir haben über Musik geschrieben, Dad … nichts weiter. Mädchensachen halt, nichts von hier, außer dass wir einen Laden haben …«
Die schallende Ohrfeige schmetterte ihren Kopf zur Seite. »Selbst das geht die dort draußen nichts an, hörst du?« Er knirschte mit den Zähnen und packte sie an ihrem schwarzen Shirt, sodass es in den Nähten knackte. »Lass dir das eine Warnung sein, Tochter! Ein falsches Wort in die falschen Ohren, und die dort oben fangen an, Fragen zu stellen!«
Er ließ sie los und drückte ihr das Paket gegen die Brust. »Du weißt, dass ich dich liebe. Nimm dein Paket und geh auf dein Zimmer. In zehn Minuten stehst du wieder hinter der Theke!«
Vivians Wange brannte wie Feuer. Sie strich sich ihr schwarzes Shirt glatt, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und lief durch den Laden und nach oben in ihr Zimmer. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schluchzte sie auf. Sie warf das Paket aufs Bett und setzte sich davor auf den Boden. »Die von außerhalb«, äffte sie ihren Vater nach und verzog das Gesicht. »Und wenn du mir mein Blondie-Shirt zerrissen hast, werde ich …«
Nichts werde ich … Er hat recht. Es geht die von außerhalb nichts an, wie die Leute hier ticken. Die würden das eh nicht verstehen .
Verstohlen zog sie den Schuhkarton unter dem Bett hervor und klappte ihn auf. Ihre Finger strichen behutsam über das zusammengerollte Bündel Dollarscheine. Die Zugfahrpläne von Sheldon nach Minneapolis von dort weiter nach New York kannte sie auswendig. »Ich werde von hier verschwinden.« Vivian hasste das Leben in dieser Einöde, in der man abgesehen von sich besaufen nichts unternehmen konnte. Sie sehnte sich dagegen nach Musik, nach jungen Leuten und einem Leben ohne Zwang. Sie zog ein zerfleddertes Magazin mit dem Titel PUNK aus dem Karton. »Eine von außerhalb werden.«
Vivian zog das Paket vom Bett und das Klappmesser aus der Gesäßtasche ihrer dunkelblauen Jeans, das sie bei sich trug, wenn sie im Laden arbeitete. Nervös zog sie sich den schwarzen Pferdeschwanz straff. »Mal sehen, was du mir Schönes geschickt hast, Mary-Ann.«
Sie setzte die Schnitte wie beim Auspacken der Ware, akribisch darauf bedacht, nicht zu tief zu schneiden. Andächtig klappte sie die Kartonage auseinander. »Hölle noch mal, ist das krass!« Der Inhalt verschlug ihr den Atem. Vivian zog die beiden T-Shirts, den Brief und die Musikkassette heraus und sprang aufs Bett. »Wow … einfach nur … wow!«
Vivian legte sich auf den Rücken und faltete das schwarze Ramones-Shirt auseinander. »YES! … der Baseballschläger-Adler!« Das andere Shirt war von Joy Division, einer Band, die sie nicht kannte. »Unknown Pleasures«, flüsterte sie ehrfürchtig und fand, dass es zu ihrer geplanten Flucht passte. Doch dazu fehlten ihr eine Menge Dollarnoten und die konnte sie nur unten im Laden verdienen. Das rief ihr die Zehnminuten-Frist ins Gedächtnis, die sie von ihrem Vater eingeräumt bekommen hatte.
»Fuck, der Laden!« Sie hatte die Frist überschritten. Vivian stopfte alles ins Paket, gab dem Schuhkarton einen Tritt, das er unter dem Bett verschwand, und lief in den Laden zurück. Sie passierte die Tür hinter der Theke und rannte direkt in ihren Vater hinein. Vivian keuchte. »Hab’s nicht vergessen, Dad.«
Sie rechnete mit einer weiteren Ohrfeige, doch Bob McCall lächelte zu ihr herab. »Ich weiß doch, bist ’n gutes Mädchen. Hilf mir mal mit den Kühlboxen, ja?«
Vivian atmete erleichtert auf. Der Inhalt der Kühlboxen war die Haupteinnahmequelle des Gemischtwarenladens ihrer Eltern. Der Eingang zum Kühlraum befand sich hinter der Fleischauslage, eine massive Stahltür mit zwei abgegriffenen Riegeln, die stets geschlossen sein musste, um die Kälte im Innern konstant zu halten.
Sie öffnete die Tür und schlüpfte in die angenehme Kälte des überraschend großen Raums. Mit dem Rücken schob sie die Tür zu und schloss für einen Moment die Augen, damit ihr erhitzter Körper abkühlen konnte. Es war jedes Mal ein kleiner Schock, die Kälte zu spüren. Gleichzeitig war es ein angenehm prickelndes Gefühl, wenn sich der Schweiß abkühlte und die kalte Luft in ihre Lunge strömte. Wenn sie danach in die Wärme zurückkehrte, fühlte sie sich wie ein Eis am Stil.
Vivian stieß sich ab und schlängelte sich zwischen dem von der Decke an Fleischerhaken hängenden Fleisch hindurch, um zur rückwärtigen Wand zu gelangen, wo Dad die Kühlboxen vorbereitete. Sie stieß mit der Schulter gegen eine der Hälften, die dadurch ins Schwingen geriet, eine andere anstieß und die wieder eine, bis schließlich alle schwankten und einen grotesken Tanz aus gehäuteten, fleischigen Torsi aufführten, dass Vivian kichern musste.
Bob McCall hatte das Metzgerhandwerk von seinem Vater erlernt. Er wusste, wo die Schnitte zu setzen waren, wie man die Häute abzog und die Knochen teilte. Auf seinem alten, von Narben überzogenen Arbeitstisch trennte er von dem Schlachtgut zuerst die Extremitäten ab, um sie auszubluten. Das Holz hatte deswegen im Laufe der Jahre eine dunkle, fast schwarze Farbe angenommen. Er zog ihnen die Haut ab und legte sie in einem speziellen Salz ein, das es nur in den Bergen South Dakotas gab. Das Pökelfleisch war einfach der Hammer.
Im nächsten Arbeitsschritt schnitt er die Köpfe ab, achtete aber darauf, dass der Hals am Torso verblieb. Die ließ er, wie sie waren, und steckte sie in gläserne Kästen, die Vivian an Aquarien erinnerten, weil er sie mit einer Art Sirup ausgoss. Wenn er Fleisch in den Kühlboxen verschickte, ging jedes Mal der dazugehörige Kopf mit auf die Reise, denn darauf legte die Kundschaft in der großen Stadt besonderen Wert.
Er brach den Körpertorso auf und nahm ihn aus, wie es ein Metzger machte. Hier wurde nichts in den Abfall geworfen. Selbst die Haut verarbeitete er zu Hundekauknochen. Für Großstädter mochte der Arbeitsbereich im Kühlhaus nicht hygienisch, die Beile, Hackklingen und Messer antiquiert wirken, doch McCall interessierte das nicht. Hier in Purgatory tickten die Uhren anders, auf Meinungen von außerhalb gab man einen feuchten Dreck.
Unabhängig davon, wie sehr sie das Leben in Purgatory hasste, arbeitete Vivian gerne im Laden ihrer Eltern. Sie half im Kühlhaus, gab dem Mastvieh in der Scheune hinter dem Haus Futter und hätte wahrscheinlich einen der Jungs aus dem Ort geheiratet, wenn da nicht diese Brieffreundschaft wäre. Mary-Ann schenkte ihr mit ihren ausschweifenden Briefen einen Blick über den Horizont hinaus, vermittelte ihr neues Wissen und verdammt coole Musik. Sie hatte in Vivians Kopf mit ihren Zeilen einen Keim gesetzt, der sie dazu trieb, mehr vom Leben zu erwarten als die langweilige, ländliche Einöde.
Heute waren es fünf Kühlboxen, die ihr Vater vorbereitet hatte. Sie lud die mit Eis und Fleisch gefüllten Boxen auf eine Sackkarre, rollte sie aus dem Kühlhaus und durch den Laden zu Chuck, der sie rauchend neben dem Postlieferwagen erwartete. »Verdammt, Mädchen, hast mich in der Hitze ganz schön warten lassen.« Er warf einen schrägen Blick auf die Boxen und öffnete die Hecktüren des Wagens. »Wer frisst nur diesen ganzen Mist?«
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