1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Und keine Grenzen …
»Bist ’ne notgeile Bitch«, brummte Lissy zwei Reihen weiter und brachte es damit auf den Punkt. Sie klang genervt. Ihr Feuerzeug klickte, kurz darauf roch Hope den Rauch einer Zigarette. »Lässt dich mit jedem ein. Ich sag dir, das geht eines Tages schief!« Lissy war in ihrer Art verletzend direkt, aber auch gemein. In diesen Momenten brach es unbeherrscht und derbe aus ihr heraus. Sie kicherte leise. »Hörst wohl kein Radio, hm? In der Nacht vom 29. Juli, da hat so’n Irrer ein Mädchen in den Bronx abgeknallt … die Kleine, nun, im Radio haben sie gesagt, sie hieß Donna, war auf der Stelle tot … Bämm … Kopf geplatzt … alles Matsche … Scheiben vollgespritzt mit roter Soße. Ihre Freundin Jody kam mit ’ner Fleischwunde davon!«
»Ach, leck mich doch, Lissy!«, schnauzte Cherryl gespielt aufgebracht. Ihr war anzuhören, dass sie auf Lissys Ausführungen einen Dreck gab.
»Keine gute Idee, im Mais zu rauchen«, gab Hope zu bedenken, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, und bereute es sogleich. Sie hatte etwas anderes sagen wollen. Dass dieser Killer ein Monster war, wenn er wehrlose Mädchen nach einem Discobesuch auflauerte und sie ohne speziellen Grund erschoss. Dass man damit keine Scherze machte. Jetzt war es anders gekommen. Was sollte es? Sollten die Mädchen sie doch ruhig für eine Spießerin halten.
Hope wusste von Lissy, dass sie ihre Eltern bei einem Wohnungsbrand verloren hatte. Danach hatte sie eine Zeit lang bei ihrem Onkel gewohnt, bekam Drogenprobleme, weil der Dreckskerl fixte und sie mit reinzog. Das führt dazu, dass sie aus einem Grund, den sie beharrlich verschwieg, die Wohnung abfackelte und damit auch ihren Onkel verlor. Hope gab einen Dreck auf das hartnäckige Gerücht, dass es Lissy gewesen war, die das Feuer bei ihren Eltern und später bei ihrem Onkel gelegt hatte. Wenn Lissy das tatsächlich getan hatte, gab es einen triftigen Grund. Sie vermutete, es ging mit ihrem Hang zu impulsiver Gewalt einher, die durch ein falsches Wort wie aus dem Nichts ausgelöst werden konnte.
Hope versuchte, auf andere Gedanken zu kommen und sich zu entspannen, damit sie pinkeln konnte, doch es wollte einfach nicht klappen.
»Mir doch egal«, schnippte Lissy schlecht gelaunt zurück. »Hab keinen Bock auf die nächsten Wochen …« Es plätscherte und sie stöhnte erleichtert auf. »Andererseits«, Hope hörte, wie Lissy aufstand und sich die Schlagjeans nach oben zog, »könnten wir mit ausreichend Alkohol und den Jungs ’ne Menge Spaß haben.« Es raschelte, als sie sich ihren Weg durchs Maisfeld bahnte, um Cherryl zu folgen.
»Willst du dir die Jungs etwa schönsaufen oder was?«, feixte Cherryl kichernd.
Hope konnte durch den Mais hindurch die besagten Jungs neben dem Motorrad stehen sehen und wie sie rauchten. Dieser Dummkopf Brady prahlte mit seinem albernen Rekorder, der aussah wie ein Tricorder aus der Serie Raumschiff Enterprise, und den Musikkassetten, die er so oft abgespielt hatte, dass sie leierten. Hope musste innerlich lachen, weil sie sich an den Bandsalat von gestern erinnerte und wie er verzweifelt versucht hatte, das Band mit einem Bleistift im Rädchen aufzuspulen. Wenn er alleine war, konnte er ein richtig süßer Typ sein, der ein verschmitztes Lächeln hatte, das Herzen höher schlagen ließ. Sie saß tief im Feld und genoss das Gefühl, als der Druck in ihrer Blase endlich nachließ. Angewidert beobachtete sie das Rinnsal, das sich im anthrazitfarbenen Staub seinen Weg um ihre Cowboystiefel bahnte.
Der Boden ist hier unheimlich schwarz …
Sie hatte gedacht, dass er in Iowa rot sei. Warum, wusste sie nicht mehr. Womöglich, weil hier Indianer lebten. Stattdessen war er schwarz und erinnerte sie an Lavagestein.
Toter Boden, unter dem Böses gärt …
Ein Wirbel aus schwarzen Vögeln über einer Stadt, in der das Böse regiert …
Ein Prediger des falschen Gottes, der das Obere nach unten kehrt …
Ein See voll mit schwarzem Schlamm, der den Boden unter dem Mais gebiert …
Schweinedung und Leichenasche …
Hope schrak aus einer Art Trance auf, schüttelte den Kopf, um ihre wirren Gedanken zu vertreiben. Es kam oft vor, dass Mist wie dieser in ihrem Kopf herumspukte.
Reflexionen meiner verkorksten Kindheit …
Hope wurde von Visionen heimgesucht, seit sie denken konnte. Ihre früheste Erinnerung reichte in ein Kinderheim in den Sümpfen Louisianas zurück, wo sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Ihre Fragen nach ihren Eltern blieben unbeantwortet, nach dem Warum natürlich auch. Angeblich hatte man eines Morgens vor der Tür einen Korb und einen Koffer gefunden. Im Korb lag sie, der Koffer war abgesehen von einem handbeschriebenen Zettel leer. Sie kannte die eilig hingekritzelten Worte auswendig.
Hope Cannary Burke … geboren an einem verregneten Freitag in Butte La Rose, Louisiana …
Abgestellt wie Müll, den man loswerden wollte, weil er störte. Im Kinderheim machte man ihr nachdrücklich klar, dass sie, anstatt unnütze Fragen zu stellen, zu arbeiten hatte, um ihren Beitrag zu leisten. Also hielt sie ihren Mund und fraß beim Bodenschrubben oder Bettenbeziehen alles in sich hinein, bis sich eine imaginäre Halde aufgetürmt hatte, die schwarz und hoch war. Während die anderen Kinder wenigstens Erinnerungen mitbrachten, hatte sie nichts. Sie schuf sich ihre eigene Welt. Eine Welt der Träume, in die sie sich nach Belieben zurückzog. Doch ihre Welt machte sich selbstständig. Was sie anfangs kontrollierte, entglitt nach und nach ihrer Kontrolle. Die Träume wandelten sich in pures Chaos, das Bilder schuf, die sie nicht deuten konnte. Mit zwölf lief sie aus Louisiana weg und ging nach New York, weil die Visionen in ihrem Kopf es ihr befohlen hatten. Hope ließ sich von den Bildern leiten, gab sich ihnen hin, weil es das Einzige war, was sie hatte.
Ich sehe hier nicht einen verdammten schwarzen Vogel … hab am Ende noch ’n Hitzschlag, wenn ich an solchen Mist denke …
Als nichts mehr kam, zog sie ihr Höschen hoch und den Jeansmini runter, damit er ihren Hintern bedeckte. Sie wollte bereits wieder zu den anderen gehen, doch sie hörte ein seltsames Geräusch in ihrem Rücken: ein Knacken im Mais, gefolgt von einem flüchtigen Rascheln. Hopes Magen krampfte, weil ihr die Kurzgeschichte von Stephen King in den Sinn kam, die sie letzte Nacht gelesen hatte.
Kinder des Mais …
Kinder mit beschissenen weißen Augen, die einfach nur dastehen und dich anstarren …
Dieser Blödmann Brady hatte ihr die Readers-Digest-Ausgabe vom Juni gegeben und behauptet, die Geschichte wäre eine coole Einstimmung für den Trip nach South Dakota. Dass es sich dabei um Horror handelte, hatte er ihr verschwiegen. Dennoch hatte sie die Geschichte bis zum Ende gelesen, einfach weil sie wissen musste, wie sie ausging. Und nun saß sie in einem Maisfeld und rechnete damit, eins dieser Psychokinder zu Gesicht zu bekommen.
Dieser kleine Scheißer …
Womöglich saß einer der Jungs aus dem Bus im Mais und biss sich in die Handballen, um nicht laut aufzulachen. Es raschelte wieder. Gleichmäßig und leise. Etwas pirschte sich an sie heran. Ebendiese Gleichmäßigkeit ließ sie den Wind von vornherein ausschließen.
Könnte ein Hase sein … oder ein Einheimischer, der uns beobachtet hat und sich jetzt Gott weiß, was tut … scheiß Spanner …
Egal, was es sein würde, es war ihr äußerst unangenehm. Hope glaubte, Blicke zu spüren, die sie fixierten. Da war es wieder: ein Rascheln; Stauden, die sich bewegten. Es schien sie zu umkreisen wie ein Tier, das den besten Platz zum Angriff suchte. Hope schluckte.
Wenn es zwischen mich und die Straße gelangt, schneidet es mich von den anderen ab … treibt mich weiter ins Maisfeld hinein …
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