»Ihr seid der Wirbelwind!«, rief sie. Nach etlichen Drehungen ließen sich die beiden ins Gras fallen und lachten. Claudine warf sich auf Anouk und umarmte sie.
»Halte mich fest, Anouk, dann dreht sich meine Welt mit deiner.«
»Glaub mir, meine Welt dreht sich so sehr, dass ich kaum etwas in ihr erkennen kann!«, rief die Zofe.
»Ich kann auch nichts erkennen«, hörte man Claudines gedämpfte Stimme. Sie hatte ihr Gesicht an Anouks Hals gepresst, als wolle sie sich in ihrem Nacken verkriechen.
»Gurruuu! Gurruuu!«, lockte Knecht Martin vor dem nahen Taubenschlag.
»Oh! Die Tauben!«, rief das Kind und lief sofort hin. Anouk und Jean hatten noch etwas Mühe hochzukommen, um hinterherzutorkeln.
»Was machst du denn da?«, fragte die Prinzessin, als sie sah, wie Martin vorsichtig einen zusammengerollten Streifen Papier am Bein einer Taube befestigte.
»Die Taube bringt eine Botschaft zum Nachbardorf. Ich brauche dringend mehr Körner, Rüben und Bohnen. Unsere Bauern sollten das schon längst geliefert haben.«
»Das sind also Brieftauben?«, Jean war begeistert. Er hatte nicht gewusst, dass es am Schlossgelände welche gab. Sehnsüchtig dachte er an die Tauben seines Wahlbruders Quasimodo in Paris.
»Du schreibst also Nachrichten und die Tauben bringen diese an die gewünschte Person? Wäre das auch über weitere Distanzen möglich?«
»Die Nachrichten schreibe nicht ich, sondern unser Verwalter, ich bin des Schreibens nicht kundig, mein Herr, aber dafür kenne ich mich mit der Taubenzucht aus.«
»Das ist wunderbar. Vielleicht werde ich darauf noch zurückkommen. Hab Dank, Martin!«
Der Knecht verneigte sich.
»Darf ich sie streicheln?«, fragte Claudine.
Martin hielt dem Kind die Taube hin, die sich in den großen Händen des Mannes sicher zu fühlen schien. Mit zwei Fingern streichelte Claudine ihr über den Kopf, neigte sich nahe an das Tier und flüsterte: »Guten Flug, und erzähle mir dann, wie es war.«
»Schaut, Mademoiselle, jetzt geht’s los!«, sagte Martin, hob die Arme und warf die Taube vorsichtig in die Luft. Nach kurzem Flattern gewann diese rasch an Höhe und segelte bald mit ruhigen Flügelschlägen dahin.
»Ich will auch eine Taube sein!«
»Gerade vorhin wolltet Ihr noch ein Huhn sein.«
Anouk lachte, nahm Claudine an der Hand und verabschiedete sich. Martin verneigte sich abermals, Jean begleitete sie aber noch bis zum Schloss.
Währenddessen ging Baron de Bonarbre noch einige Dokumente mit Duc Raphael und Madame Veronique durch. Das Fenster stand offen, man hörte Claudines und Anouks Stimme. De Bonarbre blickte verstohlen hinaus und entdeckte Jean bei der Prinzessin und der Zofe. Es ärgerte ihn, dass sich der Schreiber auf der Wiese vergnügte, während er eigentlich bei dieser Besprechung für Notizen gebraucht wurde. Raphael bemerkte es.
»Wir sollten uns eine kleine Pause gönnen, das Wichtigste ist ja vorbereitet«, sagte er in Richtung seiner Mutter.
»Dann sehen wir einander beim Mahl«, antwortete diese und verließ den Raum.
Raphael und Julien blieben am Fenster stehen, bis das Kind und seine Begleitung im Schloss verschwunden waren.
»Claudine kennt mich gar nicht richtig, obwohl ich fast täglich an der Familientafel das Frühmahl einnehme. Sie spricht mit allen, nur nicht mit mir. Gibt es denn keinen Weg, der mich ihr näherbringt? Ich sehne mich danach, Teil eurer Vertrautheit zu sein«, bekannte Julien. Raphael nickte nachdenklich.
»Ich weiß. Bestimmt hätte Agnès auch nichts dagegen, aber, um ganz ehrlich zu sein, wirkt es manchmal auf mich, als käme niemand an Claudine richtig heran, außer Anouk vielleicht. Agnès scheint in einer eigenen Welt zu leben, in die sie unser Kind durch ihr allzu freies Gehabe entrückt hat. Die Erziehungsbestrebungen meiner Mutter sind für mich zuweilen sinnvoll und nötig, dann wieder, wenn ich mit Claudine plaudere und spiele, merke ich, dass sie nicht in unsere Konventionen passt und sogar ich außen vor bleibe. Claudine die Freiheit zu nehmen, erschiene mir wie eine Verletzung, es aber darin zu belassen, entrückt sie uns.«
»Ich möchte Teil von euch beiden sein, Raphael«, insistierte Julien.
»Und Agnès?«
Raphael ergriff die Hand seines Freundes und schaute ihn an. Julien senkte den Blick.
»Ja, natürlich. Verzeih. Deine Gemahlin wirkt so unbeugsam und stark, dass ich zuweilen ihre Rechte und Bedürfnisse vergesse.«
Die Bäckerei auf der Mariahilfer Straße war voller Kunden, alle Kaffeetischchen besetzt. Gut so, dachte Albert Alden. Nach Wochen des Zauderns hatte er sich endlich dazu durchgerungen, wieder hinzugehen. Es war ja kindisch, dieses Geschäft zu meiden, nur weil Selma, die junge Angestellte, nie bei ihm anrief. Was erwartete er sich? Dass sie sein Manuskript las und ihn dann begeistert kontaktierte? Auf ihre Meinung zu hoffen, vielleicht sogar auf ein wenig privaten Kontakt, war lächerlich gewesen, das musste er sich eingestehen. Doch jetzt zu feige zu sein, um wie üblich das Gebäck dort zu holen, war noch peinlicher. Nur um seine Selbstachtung wieder ein wenig aufzupolieren, hatte er beschlossen, nach den Vorlesungen so entspannt wie möglich dort etwas zu kaufen. Doch aus irgendeinem Grund war das Geschäft brechend voll. Gab es etwas gratis? Unverrichteter Dinge ging er nach Hause, es war Freitag. Leon kam übers Wochenende, wenigstens dieser Lichtblick erwartete ihn. Bevor sich Albert etwas zum Essen richtete, rief er seinen Sohn über Skype an.
»Hallo, Leon, kommst du heute Abend oder morgen Vormittag? Ich wollte gerade eine Kleinigkeit zum Essen richten.«
»Servus, Papa, heute Abend treffe ich mich mit Freunden, morgen gegen elf bin ich dann bei dir. Hast du etwas Bestimmtes vor? Ich muss nämlich so ein blödes, kitschiges Gedicht auswendig lernen. Was für ein Schwachsinn! Gedichte sind was für kleine Kinder!« Leon zog einen Schmollmund, der tatsächlich kindlich wirkte.
»Na, du bist ja nicht gerade bestens drauf. Aber so schlecht finde ich das Prinzip des Auswendiglernens nicht, Theaterkünstler oder Opernsängerinnen müssen sich Unmengen an Text merken. Von wem ist das Gedicht denn und wie lautet der Titel?«
»Was weiß ich, eh ein bekannter Dichter, irgend so ein Heini, jedenfalls geht es beim Inhalt um Mädchenkram, fehlen nur noch die Einhörner.«
»Es geht um Einhörner?«
»Nein, das ist das einzige Märchenwesen, welches nicht darin vorkommt, dafür aber Elfen und Nixen oder so, urpeinlich!«
»Kommt mir bekannt vor, könnte entweder eine Passage von Shakespeares ›Sommernachtstraum‹ sein oder vielleicht ein Gedicht von Heinrich Heine, müsste mal nachschauen, doch bei meiner Lyriksammlung finde ich es bestimmt.«
»Ach ja, Heine heißt er, nicht Heini, wäre eh witzig gewesen, ein Heini schreibt was über Zwerge.« Leon kicherte. »Glaubst du, wir schaffen das Gedicht am Wochenende?«
»Es in so kurzer Zeit auswendig zu lernen, halte ich nicht für sinnvoll. Besser fände ich es, den Text zu durchleuchten, seine Intention zu erfassen.«
»Das ist es ja! Der Schneider, also unser Deutsch-Prof, hat uns das als Aufgabe gegeben, aber dazu sollten wir auch noch das Traktat lesen und die Biografie von diesem Heini, also Heine. Wir wollten das nicht, es haben mehrere von uns dagegen protestiert, da wurde der Schneider halt ärgerlich und hat uns diese Scheißarbeit aufgegeben. Übers Wochenende!
Irgendetwas stimmt hier nicht. Die Analyse des Textes muss mit der Lehrkraft geschehen und nicht einfach anhand eines Traktats, vor allem aber nicht als Wochenendübung. Ich werde mich über den Professor beschweren!
Na ja, lieber nicht. Vielleicht müssen ja nicht alle das Gedicht in so kurzer Zeit lernen. Vielleicht haben manche ohnehin die Analyse in mehreren Deutschstunden mitgemacht. Kann aber sein, dass manche nicht so richtig zugehört haben.«
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