»Mademoiselle! Claudine! Wo steckt Ihr denn schon wieder? Schwester Maria Pilar beginnt bald mit Eurem Unterricht und Ihr müsst zuvor noch Euer Morgenmahl essen!«
Anouk hatte für die Prinzessin nur das Obergewand aus der Truhe geholt, schon war das Kind verschwunden. Mit seinen bald fünf Jahren entwischte es der Zofe oft flinker als eine scheue Katze. Doch die Zofe kannte den kleinen Wildfang und auch dessen Lieblingsplätze. Hinter dem Schloss auf der noch taunassen Wiese stand Claudine de Valois barfuß bei der uralten Linde, stützte die Hände gegen den Stamm und starrte unbewegt zur mächtigen Krone empor. Es duftete betörend, der Baum stand in voller Blüte. Tausendfach zwitscherten Vögel im Geäst. Außer Atem und doch beeindruckt verharrte Anouk.
»Da ist es wirklich sehr schön, alles duftet! Aber Ihr habt auch Pflichten, Mademoiselle Claudine. Kommt jetzt! Bitte!«, mahnte die Zofe.
»Stör mich nicht. Ich bin sehr beschäftigt!«, flüsterte das Kind. Anouk lachte laut auf.
»Sagt bloß! Was habt Ihr denn so Dringendes zu erledigen, barfuß auf der feuchten Wiese unter der Linde?«
»Ich muss dem Baum zuhören und seinen singenden, summenden Gästen und den kriechenden Würmern und den flüsternden Blättern. Das ist äußerst wichtig.« Das Kind wandte den Blick nicht von der Baumkrone, dabei atmete es tief den süßen Duft der Lindenblüten ein.
»Äußerst wichtig also. Wieder so ein Ausdruck Eurer Großmutter, nur dass die Duchesse tatsächlich Wichtiges zu tun hat im Gegensatz zu Euch, kleiner Wildfang.«
»Pst! Ich verstehe nichts, wenn du ständig redest!«, war alles, was sie als Antwort bekam. Anouk wurde langsam nervös. Das Versäumnis der Kleinen würde man ihr in die Schuhe schieben. Nach einer Weile trat sie an das Kind heran, umfing es fest und trug es in die Kemenate hinauf. Claudine strampelte, quietschte und lachte gleichzeitig.
»Du hast meine Morgenandacht gestört, dumme Anouk!«, rief sie, gab der Zofe aber beim Ankleiden einen Schmatz auf die Wange.
»Sagt das aber bitte nicht Schwester Maria Pilar, sie hält Eure Worte womöglich für Blasphemie«, sagte Anouk.
»Was ist Blas Feni?«
»Das erkläre ich Euch später. Rasch jetzt, trinkt die Milch und esst das Brot.«
Das Kind war früh aufgestanden und hatte reichlich Appetit. Auf den langweiligen Unterricht mit der Schwester freute es sich allerdings gar nicht.
»Gelobt sei Jesus Christus«, grüßte die Nonne.
»In Ewigkeit. Amen«, antwortete die Prinzessin sittsam und setzte sich an den Tisch, auf dem bereits die große Bibel lag.
»Habt Ihr am Abend Eurer Sünden gedacht und sie bereut und beim Erwachen Euer Morgengebet gesprochen?«
»Oh ja, Schwester Maria Pilar! Mein Morgengebet war fein, voller Gesang und Frische!«
»Erstaunlich. Und die Reue für Eure gestrigen Sünden?«
»War nicht nötig. Es gab keine Sünden.«
Die Schwester bekreuzigte sich, wusste aber, dass die Duchesse Agnès dem Unterricht bestimmt wieder beiwohnen würde, und beließ es dabei. Es war der Dominikanerin unverständlich, wie dieses Kind aus königlichem Hause so ungezügelt, fast gottlos, heranwachsen konnte, doch der Duchesse durfte sie sich auch mit den ehrlichsten moralischen Grundsätzen nicht widersetzen. Zunächst hatte Madame Agnès de Valois das Kind sogar allein erziehen wollen. Es beherrschte deswegen bereits in seinem zarten Alter beträchtliche Kenntnisse des Lesens und Schreibens. Die Mutter des Duc, Madame Veronique hatte es schließlich durchgesetzt, für ein paar Stunden wöchentlich auch den nötigen christlichen Unterricht von einer Ordensfrau erteilen zu lassen.
»Sprecht mit mir das Confessio pecati mei.«
Die Prinzessin rollte die Augen. Was für ein ungehöriges Verhalten, wie die Schwester empfand. Da trat die Duchesse Agnès in den Raum. Schwester Maria Pilar erhob sich und grüßte stumm, indem sie das Haupt senkte.
»Maman!«, rief das Kind und lief seiner Mutter in die Arme, die es an sich drückte.
»Ich habe heute früh die Linde hinter dem Haus begrüßt und sie hat es mir mit tausend Vogelstimmen gedankt und mit Flüstern und mit ihrer starken Nähe. Ihr Stamm ist so groß wie das Haus von Martin, der die Hühner und Schweine versorgt und auch die Tauben!«
Schwester Maria Pilar wollte schon protestieren, doch die Duchesse lachte laut und antwortete:
»Ja, die Linde ist ein besonderer Baum. Da hast du ja den Tag sehr gut begonnen, mein Liebes!«
»Hat Papa heute wieder so viel langweiligen Besuch, oder können wir am Nachmittag miteinander hinunter zum Bach gehen? Dort gibt es eine Ente mit vielen süßen Küken!«
»Papa hat leider wichtige Besprechungen, denen auch ich beiwohnen werde. Du wirst den Nachmittag mit Anouk verbringen, Claudine. Aber jetzt dürfen wir Schwester Maria Pilar nicht länger warten lassen.
»Was gibt es denn heute Wissenswertes zu lernen?«, wandte sie sich an die ratlos Dastehende.
»Ich wollte den Unterricht mit dem ›Confessio‹ beginnen.«
»Das ›Confessio pecati mei‹ für ein kleines Kind? Ich halte einen Lobpsalm für geeigneter. Unsere Linde steht in voller Blüte, die Sonne strahlt, die Vögel singen, da kann man ja nur loben. Wir könnten gemeinsam einen Teil des Psalms 104 singen.«
Madame Agnès liebte den Gesang schon immer und seit sie nicht mehr wie früher als Esmeralda singend und tanzend auf Plätzen auftrat, drückte sie Freude oder Traurigkeiten durch die reiche Tradition der Psalmen aus. Sie, die berühmte Tänzerin, war als Hexe und Ketzerin zum Tode verurteilt worden und hatte im Kloster der Klarissen Schutz gefunden. Ein Leben lang war sie frei wie ein Vogel mit der Zigeunertruppe durchs Land gezogen, hatte sich mit ihrer Madre Sophie in Paris angesiedelt und ihre Leidenschaft zum Broterwerb gemacht, das Tanzen und Singen. Und wer war sie nun? Eine biedere, psalmodierende Duchesse mit einem Kind, das durch Schändung gezeugt worden war. Dieses Kind aber bedeutete nun ihr ganzes Glück. Wie viel Esmeralda steckte noch in ihr? Manchmal glaubte sie, ersticken zu müssen, wenn sie keine Räder auf der Wiese schlagen, keine Tänze, keine fröhlichen Gesänge darbieten konnte. Ihr Leben würde sie dafür riskieren, wieder frei durch die Lande zu ziehen, endlich wieder die geliebte Madre zu sehen, nachts unter freiem Himmel zu schlafen. Doch niemals wollte sie Claudines Glück dafür aufs Spiel setzen. Sogar der Kerker wäre ihr recht, wenn es ihrer Tochter nur gut ginge.
Schwester Maria Pilar blätterte noch in der Bibel, da stimmte die Duchesse den Psalm bereits auf Latein an. Claudine kannte ihn nur ansatzweise, weil ihr Latein noch nicht sattelfest war. Sie sang bekannte Passagen mit. Danach schwiegen sie. Die Schwester staunte über die leidenschaftliche Freude, mit der die Duchesse diesen Lobpreis gesungen hatte. Anschließend wurde dem Kind der gesungene Textteil erklärt. Es las einige Zeilen sogar selbst:
»Die Herrlichkeit des Herrn bleibe ewiglich.
Der Herr freue sich seiner Werke.
Ich will singen dem Herrn mein Leben lang.
Ich will loben meinen Gott, solang ich bin.«
Bald darauf war der Unterricht für diesen Tag beendet.
Baron de Bonarbre schlenderte am Gang vor dem Studierraum in Richtung Empfangsaal. Er hoffte, wie so oft, die kleine Prinzessin zu treffen, um ihr einen schönen Tag zu wünschen, vielleicht sogar ein wenig mit ihr zu plaudern. Durch sie war Duc Raphael viel gelöster, das Kind brachte eine neue Stimmung ins ganze Schloss. Julien de Bonarbre sehnte sich danach, mit dem Duc und dessen Tochter unbeschwert auf der Wiese zu spielen, sie Kleinigkeiten zu lehren, mit ihr zu singen. Darum beneidete er Anouk und auch den Schreiber Jean, die täglich Gelegenheit fanden, dem Kind zu begegnen, während er selbst nur aus einer sicheren Diskretion am Leben der Tochter seines Geliebten teilhaben konnte. Doch die Tür zum Studierraum stand offen. Am Tisch saß nur die strenge Nonne und wirkte ins Gebet vertieft. Kein Plaudern und Lachen tönte durch die Gänge. Das Kind würde sich verspäten, Julien durfte das aber nicht. Er betrat den Empfangssaal, wo Duc Raphael de Valois bereits wartete, ebenso der Schreiber Jean de Bouget, Madame Veronique de Valois, Pater Pedro von den Trinitariern und der Vogt von Chartres, Baron de Claireleau. Es ging um die Aufnahme einer wohlhabenden jüdischen Familie, die vorhatte, aus Valencia nach Chartres zu ziehen. Die örtliche Geistlichkeit wollte deren Ansiedlung verhindern, das Haus de Valois pflegte allerdings seit längerem geschäftliche Beziehungen zu den jüdischen Seidenhändlern, vor allem zur besagten Familie Jardinverde. Bei weiteren Verhandlungen wollte man den Pfarrherrn, aber auch Monsieur Jardinverde mit einbinden. Als Madame Agnès den Saal betrat, erhoben sich die Herren und begrüßten sie mit einer Verneigung. Freundlich nickend dankte sie. Nur ihre Schwiegermutter begrüßte die junge Duchesse mit einem Knicks.
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