»Halte mich, du starker Baum,
deine Früchte sind mir Himmelsnektar.
Honig tropft mir auf die Lippen,
allein wenn du mich anblickst.
Geliebte, sprichst du so zu mir?
Deine Augen bezwingen mich,
dein Rosenduft macht mich dir ganz zu eigen.
Deine Stimme, Götterbotin,
ist mir die gute Nachricht,
lässt mich sicher schlummern.«
»Bebette möchte dich begrüßen, komm, setz dich zu uns, Maman«, unterbrach Claudine ihre Gedanken.
»Ich fürchte, das darf ich nicht, und du solltest auch nicht bei den Hühnern hocken. Unterhalte dich doch vom Zaun aus mit ihnen.«
»Das geht nicht. Bebette sagt, dass du arm bist, wenn du nicht hingehen darfst, wohin du willst, zum Beispiel hierher ins Gehege, wo die saftigen Würmer zu finden sind.«
»Ihr kostet bitte keinen von den Würmern!«, rief Anouk erschrocken. Sie reckte den Hals, um zu sehen, ob die Prinzessin womöglich einen Wurm zwischen ihren Fingern hielt.
»Aber nein, die gehören den Hühnern. Schau, Maman, Bebette kommt zu dir zum Zaun!«
Agnès hockte sich ebenfalls hin und reichte der braunen Henne zarte Löwenzahnblätter. Diese dankte es mit leisem Gackern, während sie die Blätter von ihren Fingern zupfte.
»Komm jetzt heraus, Claudine, Großmutter ist verärgert, weil du dich bei den Tieren herumtreibst.«
»Ich treibe mich nicht herum, sondern führe wichtige Besprechungen.«
»Na gut, Anouk, du kümmerst dich dann um das Bad und um ein frisches Gewand für Claudine.«
»Selbstverständlich, Madame.«
Lächelnd knickste die Zofe. Als die Duchesse hinter ihrer Schwiegermutter her ins Schloss zurückging, begegnete ihr der Schreiber Jean de Bouget.
»Ah! Du hältst wohl Ausschau nach der schönen Anouk, du Schelm!«, grüßte sie ihn. Erschrocken drehte sich der Angesprochene nach allen Seiten um.
»Madame! Nach all den Jahren schafft Ihr es noch immer nicht, ganz und gar Duchesse zu sein! Das kann uns Kopf und Kragen kosten, ich bitte Euch!«
»Und dass du meiner Zofe nachstellst etwa nicht, mein lieber Jean Frollo?«
»Was ist in euch gefahren, Madame? Bitte fühlt Euch nicht zu sicher. Wenn einmal auch nur ein Funke des Zweifels an Eurer Identität oder Loyalität der Kirche gegenüber aufflammt, ist aller Schutz dahin. Ich fühle mich ja selbst zerrissen und sehne mich nach dem alten Leben an der Seite meines Bruders, den ich schmerzlicher vermisse, als Ihr Euch vorstellen könnt.«
Das war das Stichwort, Dom Claude Frollo. Die Erinnerung an diesen Benediktiner erwischte Agnès wie ein Schlag in den Magen.
»Du hast recht, Jean. So viele Menschen haben alles riskiert, damit wir der Inquisition entfliehen können, das darf ich nicht aus Unbekümmertheit aufs Spiel setzen. Gehabt Euch wohl, Jean de Bouget, und grüßt mir Anouk, die Mühe hat, mein Töchterchen von den Hühnern wegzubekommen.«
Sie kicherte.
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, schöne Esmeralda, die mit dem Ziegenbock tanzte. Was wohl aus Djali geworden ist?«, raunte er ihr zu, während sein Blick den Platz inspizierte, ob ihn auch niemand hören könne.
»Womöglich hat Pierre Gringoire ihn an Kindes statt angenommen.«
Jetzt konnten beide nicht anders als laut loszulachen. Erst als sie sich wieder etwas beruhigt hatten, setzte Jean seinen Weg fort. Agnès blickte ihm nach. Schmunzelnd dachte sie daran, wie er ihr mit zwölf Jahren einen Heiratsantrag gemacht hatte. Da war ihr Ziegenbock Djali noch klein gewesen, sogar der Ort fiel ihr wieder ein, Place de Grève in Paris mit der unheimlichen Schwester Gudule, der Klausnerin. Ob Jean eine Lösung für ihr Nachwuchsproblem darstellen konnte? Ihr Gemahl selbst hatte diese Überlegung ›Nachwuchs auf Umwegen‹ genannt. Bestimmt würde Jean ihr diesen Gefallen erweisen. Als Einziger hier wusste er von ihrem bisherigen Leben als tanzende Zigeunerin Esmeralda, er wusste auch, dass Claudine die Frucht einer Schändung war. Noch einmal wandte sie sich nach dem Schreiber Jean um und beobachtete, wie sich Anouk tief vor ihm verneigte. Bei dem Gedanken, dass ihre Zofe vor Freude bestimmt errötete, lächelte sie. Nein, der Gedanke, Jean um einen so delikaten Gefallen zu bitten, war absurd. Sie fühlte für ihn wie für einen Bruder und er sah sie als seine Schwester. Außerdem wuchs da diese junge reine Liebe zwischen ihm und Anouk heran, das konnte sie nicht trüben. Eine andere Lösung musste gefunden werden. In der Kräuterkunde vielleicht? Ihre Madre wusste darüber sehr viel, außerdem gab es dazu bestimmt einiges in der Schlossbibliothek zu erfahren. Es musste doch ein Kraut für die Standhaftigkeit der männlichen Begierde geben. Sofort steuerte sie auf die Bibliothek zu. Wenn sie an die Höflichkeit und die Aufmerksamkeit Raphaels ihr gegenüber dachte, fühlte sie sich angeregt, sehnte sich nach seiner Berührung, nach seiner Leidenschaft. Sie sehnte sich danach, selbst begehrt zu werden. Warum nur konnte ihr Gemahl nicht das für sie empfinden, was er gern rezitierte, wenn sie wieder einmal des geheimen Büchleins gedachten, deren pikante Gedichte beide bereits auswendig kannten:
Du, mein Himmel, meine süße Henkersmahlzeit.
Ja, zum Sterben bin ich verurteilt,
solange du mich meidest.
Ein Toter bin ich in diesem Leben,
wenn du mir fern bist, du wahre Freude.
Mein Herz schlägt nur, weil es deines kennt,
wie es ruft unter deiner Brust, von der ich träume.
Atmend spüre ich dem Duft nach,
der mich trunken macht aus deiner Mitte,
du Rose der Erlösung.
Mein einziges Verlangen bist du, Geliebte.
Mein Trost ist es, von dir zu wissen.
Ich verzehre mich nach dir bei Tag und Nacht.
»Ihr bewegt Euch in wahrhaft guter Gesellschaft, Claudine«, begrüßte Jean die Prinzessin. Anouk kicherte, er zwinkerte der Zofe zu und genoss es, wie sie ihn anstrahlte und dabei versuchte, ihre Freude zu verbergen.
»Onkel Jean!«
Claudine lief mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, dass die Hühner nur so auseinanderstoben. Er hob sie über den Zaun und drehte sich mit ihr ein paarmal, dass sie vor Vergnügen quietschte.
»Ich will fliegen!«, rief sie.
»Na gut, ich hoffe, Ihr habt nicht allzu viel gefrühstückt, sonst verliert Ihr Brot und Milch beim Flug und verteilt es über die Wiese.«
»Nein, nein! Lass mich fliegen, Jean!«
Er nahm sie fest an der linken Hand und an der Fessel ihres linken Beins, dann drehte er sich und schwang das Kind dabei auf und nieder, dass ihm die Haare und Gewänder nur so flatterten. Nach einigen Drehungen senkte er es behutsam ab und ließ sich auf seine Seite ins Gras fallen.
»Die Welt dreht sich um meinen Kopf herum!«, rief Claudine atemlos.
»Nein, sie dreht sich um meinen Kopf herum«, lachte Jean.
»Nur nicht um meinen, schade eigentlich«, ergänzte Anouk und setzte sich zu den beiden.
»Das können wir gleich ändern, lasst mir nur noch ein wenig Zeit, damit sich meine Welt wieder etwas beruhigt.«
»Du willst Anouk im Kreis herumwirbeln? Sie ist doch viel zu groß!«
Claudine setzte sich überrascht auf.
»Das frage ich mich allerdings auch, Baron de Bouget.«
»Wartet es ab, Anouk, gleich werde ich Eure Welt zum Drehen bringen.«
Sie tauschten einen lächelnden Blick.
»Das ist schön, wie ihr euch anschaut, fast so wie bei Papa und Maman und wie bei Papa und Julien de Bonarbre«, meinte Claudine erfreut. Die beiden waren überrascht, doch Anouk kicherte.
»Also, ma chère, darf ich bitten?«
Jean verneigte sich mit übertriebener Geste vor Anouk, sie reichte ihm die Hand und er schwang sie hoch, sodass sie fast in seine Arme fiel. Mit überkreuzten Armen fassten sie einander an den Händen und drehten sich immer schneller im Kreis. Unwillkürlich jauchzte Anouk auf, Claudine klatschte begeistert in die Hände.
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