»Guten Morgen, meine Liebe!«, antwortete diese. Ihr war die Familie Jardinverde ein besonderes Anliegen, da sie während ihrer Reisen gern in deren Villa in Valencia einige Tage verbrachte.
»Agnès, ich hoffe, Ihr könnt mich einmal nach Valencia begleiten, vor allem da Ihr ja erstaunlich gut Spanisch sprecht.«
Lächelnd errötete Agnès de Valois und tauschte einen kurzen Blick mit dem Schreiber Jean de Bouget, der vor nunmehr über fünf Jahren mit ihr nach Chartres gekommen war. Ihre Gedanken flogen zu den damaligen Turbulenzen, als sie sich für Agnès de Blancheforet, die Nichte der Äbtissin, ausgeben musste, um der Inquisition zu entkommen.
»Madame, was meint Ihr zu diesem Vorschlag?«, sprach Raphael sie an und lächelte, als er bemerkte, dass sie wieder einmal ihren Träumereien nachhing.
»Pardon, ich war wohl etwas in Gedanken. Um welchen Vorschlag handelt es sich?«
»Die Familie Jardinverde möchte den Palast des verstorbenen Marquis Alfons de Sanslieu erwerben. Ich hatte mich verbürgt, bei dieser Transaktion behilflich zu sein und Kontakt zum Erben de Sanslieu aufgenommen. Das war gar nicht so einfach wie gedacht.«
Der Duc unterbrach sich mit einem erinnernden Kopfschütteln und lächelte.
»Mein Vorschlag wäre es, alle Beteiligten, aber auch die Geistlichkeit von Chartres, zu einem Bankett auf unser Schloss zu laden, wo Monsieur Jardinverde seinen Wunsch übermitteln kann, dass er eine beträchtliche jährliche Summe für die Kathedrale von Chartres spenden möchte, auch wenn er als Jude deren Segen nur von außen betrachten kann.
»Warum denn das?«, wollte Agnès wissen.
»Na, weil dieser Geldsegen die hohe Geistlichkeit bestimmt milde stimmen wird.«
»Nein, ich meine, warum kann er die prächtige Kathedrale nicht auch von innen sehen? Im Sommer ist es wunderbar kühl darin. Dieser besondere Ort lässt Sorgen zur Ruhe kommen. Wenn man auch als Jude unseren liturgischen Feiern nicht beiwohnen kann, so darf doch jeder Mensch guten Willens den Raum betreten, oder nicht?«
Pater Pedro schluckte und lief rot an. Dem Vogt klappte der Mund vor Fassungslosigkeit auf.
»Madame, Ihr habt wieder einmal sehr gewagte Vorstellungen. Die Idee, Juden Zugang zu unseren geheiligten Räumen zu gewähren, könnte man fast als ketzerisch ansehen, wären sie nicht gerade aus dem Mund einer Duchesse gekommen«, versuchte Madame Veronique ihre Schwiegertochter diskret, aber so deutlich wie möglich in ihrem Eifer zu bremsen. Raphael teilte so manche Gedankengänge seiner Gemahlin, fand aber, dass die meisten davon unwirkliche Träumereien seien. Ginge es nach ihm, würde auch er jegliche Unterwerfung an Stand und enge Moral über Bord werfen, aber da waren Verbindlichkeiten. Als Duc musste er Recht und Ordnung in seinem Hoheitsgebiet gewährleisten. Für Wunschvorstellungen blieb kein Raum. Sie waren gut für angeregte Gespräche mit seiner außergewöhnlichen Gemahlin, aber nicht für die Realität. Er lächelte ihr zu und sagte laut: »Ich schlage vor, Monsieur Jardinverde vor einer weiteren Zusammenkunft im Schloss einen Besuch in seiner jetzigen Residenz abzustatten und diese Frage mit ihm zu klären. Womöglich liegt der Familie gar nichts am Besuch der Kathedrale, denn die Spende gilt ja vielmehr der christlichen Akzeptanz, Juden in unserem Gebiet Wohnrecht zu gewähren.«
Man vereinbarte einen Termin für solch einen Besuch und schickte die Nachricht durch einen Boten an Ruben Jardinverde. Danach wurden andere Notwendigkeiten besprochen. Agnès fragte sich, ob die Bestimmung gerecht war, von Juden so strenge Auflagen zu verlangen. Ihre Zigeunertruppe von damals war von der Bevölkerung auch oft abgelehnt worden. Und dennoch, die Darbietungen galten allen als etwas Besonderes, man applaudierte und warf den Gauklern Münzen zu. Sich anzusiedeln war allerdings nur in Paris möglich, wo sie unbemerkt im sogenannten ›Hof der Wunder‹ gelebt hatten. In einem Gebiet wie hier rund um Chartres allerdings wäre es nicht möglich, als Zigeuner in einem Haus zu leben, umgeben von braven Christen. Ihre Sehnsucht, die Madre wiederzusehen, Quasimodo auf seinem Glockenturm in der Notre-Dame zu besuchen, oder die Truppenmitglieder im ›Hof der Wunder‹, wurde so groß, dass ihr der Atem stockte und sich ein drückender Schmerz auf ihre Brust legte.
»Meine Liebe, wenn Euch nicht gut ist, könntet Ihr Euch die Beine im Park vertreten. Auch ich möchte ein wenig an die frische Luft, das Wichtigste dieser Besprechung ist ja schon erledigt. Wollt Ihr mich nach draußen begleiten?«, meinte Madame Veronique leise. Agnès nickte. Man erhob sich mit einer kleinen Verbeugung, als die Damen den Saal verließen.
Nach einigen schweigenden Augenblicken fragte Madame Veronique, was Agnès bereits befürchtet hatte: »Darf ich hoffen, dass Euer Unwohlsein auf ein erfreuliches Ereignis schließen lässt? Unsere liebe Claudine zählt bald fünf Jahre und wartet noch immer auf ein Brüderchen.«
Die sonst so verschlossene und kühl wirkende Frau errötete bei der Vorstellung, möglichst bald wieder Grußmutter zu werden.
»Oh, an beglückenden Zusammenkünften mit dem Duc herrscht kein Mangel und, Madame, glaubt mir, sowohl mein Gemahl als auch ich beten täglich um den ersehnten Erben. Zwar kann ich diesbezüglich an mir noch nichts erkennen, aber sicherlich wird Gott uns bald damit segnen. Bestimmt!«
»So sei es, meine Liebe!«
Wie immer, wenn die Rede auf den längst erwarteten Erben kam, fühlte Agnès diese lähmende Schwäche. Der Druck steigerte sich zu einem stechenden Schmerz, ihr Hals war wie zugeschnürt, sie japste nach Luft. Als hinge das Wohl der ganzen Welt allein von ihr ab, fühlte sich die junge Duchesse gedrängt, einen Sohn zu gebären, und war dennoch überzeugt, daran zu scheitern. Mit ganzer Kraft versuchte sie, diese Stimmung vor der Schwiegermutter zu verbergen.
Sie wandelten im Park und sahen aus der Ferne die kleinen Unterkünfte der Knechte und Mägde. Mitten im Gehege für Kleinvieh hockte eine Gestalt in blauem Obergewand. Agnès lächelte, hoffte aber, dass Madame Veronique Claudine dort nicht entdecken würde. Es gab auch so schon genug Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Erziehung.
»Steht da nicht Eure Zofe Anouk am Zaun?«
Oje, dachte Agnès.
»Und wer kümmert sich dann um die Prinzessin? Oder weilt sie noch bei Schwester Maria Pilar im Unterricht?«
»Möglich.«
»Aber nein! Ich wage es kaum zu glauben, sitzt nicht Claudine mitten unter den Hühnern?«
»Gehen wir lieber zurück zum Schloss, Madame«, schlug die junge Duchesse vor.
Ohne Erwiderung eilte Madame Veronique aber zum Gehege. Anouk grüßte sie erschrocken mit einem tiefen Knicks.
»Was soll denn das? Wie könnt Ihr das Kind zu den Tieren lassen?«
Madame war außer sich.
»Claudine, was fällt dir ein, dich zu den Hühnern zu begeben? Komm sofort her, Anouk soll dich baden und umkleiden. Weißt du denn nicht, dass diese Tiere voller Ungeziefer sind?«
»Sei leise, grand-mère, ich unterhalte mich gerade«, erwiderte das Kind und legte den Zeigefinger auf seine Lippen.
Agnès kicherte verhalten, Madame Veronique war fassungslos.
»Was soll das heißen, du unterhältst dich? Mit wem denn?«
»Pst!«
»Versteht Ihr, was in das Kind gefahren ist, Madame Agnès?«
»Das sind doch nur Kinderspiele. Als ich in Claudines Alter war, liebte ich es, mich in die Gedanken der Tiere zu versetzen.«
»In die Gedanken der Tiere? Madame, Ihr könnt von Glück sagen, dass Euch jeder hier von Herzen schätzt, denn andernfalls wären Aussagen wie diese als Blasphemie zu werten, aber das solltet Ihr eigentlich wissen. Und ich dulde es nicht, dass sich meine Enkelin mit Hühnern unterhält!«
Da war sie wieder, die sonst nur noch selten erlebte Härte der Mutter des Duc. Bedauernd blickte Agnès ihr hinterher, wie sie allein zum Schloss zurückeilte. Bestimmt würde Claudines Erziehung wieder einmal Thema beim Abendmahl werden. Sie seufzte. Andererseits, vielleicht bedeutete das auch einen weiteren Besuch des Gemahls in ihren Gemächern, um die Angelegenheit unter vier Augen zu erörtern und um beisammenzuliegen. Am Vorabend hatte es ja fast einen Erfolg gegeben. Vielleicht könnte es diesmal gelingen. Sie sehnte sich danach, noch mehr aber wünschte sie, endlich von dem Druck befreit zu sein, den Erben auf die Welt zu bringen. Versonnen summte sie vor sich hin. Die Gedichte aus dem verbotenen Büchlein kannte sie längst auswendig und erfand dazu Melodien. Niemand konnte wissen, welche Verse ihr Herz in sich trug, wenn sie summte:
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