Ich trete an das Lager eines Jungen, er ist schätze ich, vielleicht zwölf Jahre alt. Diese scheußliche Blasenkrankheit ist bei ihm schon sehr fortgeschritten. Ich schäme mich. Ich bin reich, ich bin gesund, ich habe immer Glück im Leben. Ich finde heraus, wo die Eltern des Jungen wohnen, fahre zu ihnen. Dort gebe ich dem Vater 150 Mark, damit er mit seinem Sohn in die nächste Stadt, ins nächste Krankenhaus fahren kann. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Aber ich merke, dass es sich gut anfühlt. Ich gebe ein bisschen von der Großzügigkeit eines Rudolf Niehaus weiter. An Menschen, die es nötiger haben als ich. Und ich gebe Afrika ein wenig von dem zurück, was es mir gegeben hat. Denke ich.
Der Konvoi hat trotz, vielleicht aber auch wegen des Feldwebeltons sein Ziel erreicht. Mit dem Buschtaxi fahre ich zurück nach Lomé. Ich nehme mein vorheriges Leben wieder auf: Mein Camp ist neben dem Hotel, tagsüber Ausfahrten mit dem Motorrad, abends den Bauch vollschlagen am Buffet. Und vor den Gästen, vor meinem Publikum den bunten Hund geben, den mit den tollen Geschichten. Dass das alles nicht mehr richtig passt, merke ich nicht sofort. Erst an dem Morgen, an dem ich aufwache, den Kopf aus dem Zelt strecke und, ohne vorher daran gedacht zu haben, zu mir sage: Jetzt fahr ich heim. Einfach so. Ich spüre, dass mein Afrika-Abenteuer, dass meine Zeit hier abgelaufen ist. Zumindest für dieses Mal.
Aber Afrika hält noch eine Bewährungsprobe für mich bereit. Es wird die größte und härteste dieser Tour. Vor mir liegen 9.000 Kilometer, davon 5.000 durch Wüste, Hitze und Einsamkeit. Lebensbedrohlich, wie sich herausstellen sollte. Vor allem aber: Ich bin allein.
Selbstauslöser: Zentralsahara, Tanzerouft. [Foto: privat]
Auf der Hinfahrt sind wir die Ostroute gefahren, jetzt will ich die Sahara auf der Tanezrouft-Strecke durchqueren. »Tanezrouft« bezeichnet den heißesten Teil der Zentralsahara und bedeutet »Land des Durstes«. Eine andere Übersetzung: »die Wüste der Wüsten«. Unter Afrikafahrern hat diese Route aber einen anderen Namen: »la piste bidon cinq«, die Piste mit den fünf Fässern. Gebaut von den Franzosen im Ersten Weltkrieg. Wobei »gebaut« übertrieben ist: Ein paar Laster im Konvoi stellten alle 300 bis 400 Kilometer ein mit Sand gefülltes Ölfass auf, fertig. Die Fässer sind auf einer Strecke von 1.700 Kilometern die einzigen Markierungen. Keine Menschen, keine Häuser. Kein Wasser oder Benzin. Der heißeste Teil der Erde. Und da mittendurch will ich. GPS gibt es noch nicht, von Astronavigation habe ich keine Ahnung. Also bleibt nur der Kompass. Und die Hoffnung, jedes der fünf Ölfässer zu passieren. Ohne Umwege, denn dafür werden Wasser und Benzin nicht reichen.
Mein Ziel ist eine Asphaltstraße, die von Norden aus durch die algerische Wüste führt, bis nach Reggane. Ich fahre von Süden nach Norden. Im Süden liegt das besonders schwierige Gelände, und die Maschine ist wegen der Wasser- und Benzinvorräte noch besonders schwer. Niemand, den ich vor unserer Abfahrt in Deutschland befragt habe oder jetzt hier in Afrika danach frage, kennt jemanden, der das Tanezrouft mit dem Motorrad von Süden nach Norden allein durchquert hat. Und ich bin allein.
Ich mache mich an die Vorbereitungen für diese Fahrt. Der Aufbau meiner Maschine ist ursprünglich dafür konzipiert, vier 20-Liter-Kanister zu tragen. Zwei Kanister für Wasser, zwei für Benzin. Zusammen mit dem normalen Tank ergibt das 65 Liter Benzin. Meine Reichweite beträgt somit bei einem Verbrauch von sieben Litern pro hundert Kilometer 900 Kilometer. Da auf meiner geplanten Route im ungünstigsten Fall 1.700 Kilometer ohne Benzin liegen, muss ich mein Fassungsvermögen auf 125 Liter erhöhen; ich muss also insgesamt sieben Kanister mitnehmen und irgendwie an der Maschine befestigen.
Ich löse dieses Problem, indem ich die Packtaschen völlig entleere und in jeder Packtasche zwei Kanister unterbringe. Mein Gepäck sortiere ich noch einmal durch. Alles, was ich nicht unbedingt brauche, bleibt zurück. Schließlich ist alles verstaut, und ich mache eine Probefahrt: 300 Kilometer bis ins Nachbarland Benin. Dort, in Cotonou, besorge ich mir bei der algerischen Botschaft das Visum für die Einreise. Alle Kanister, Beutel, Säcke und Taschen bleiben dran und halten – auch noch, als ich wieder in Lomé an meinem Camp ankomme.
Abfahrt. Ich verabschiede mich von Lomé, meiner Heimat der letzten zwei Monate. Meine erste Etappe sind die 1.200 Kilometer von Lomé nach Tillabéri im Norden Nigers. 700 Kilometer davon sind Piste. Ich will so viele Kilometer wie möglich schaffen, fahre fast ohne Pause und brauche deswegen nur drei Tage. In Tillabéri endet nicht nur der Asphalt, hier ist auch die letzte Tankmöglichkeit. Bis zur nächsten Tankstelle sind es 1.700 Kilometer.
Als ich an die Tankstelle fahre, kommen die Bewohner des Städtchens von überall her angerannt. Ich muss ihnen vorkommen wie ein Mensch von einem anderen Stern. Blond, bärtig, dazu mit einem Motorrad, das kaum noch als solches zu erkennen ist, überall hängen Säcke, Teile und meine sieben Kanister. Die tanke ich nun einen nach dem anderen voll. Dann den eigentlichen Benzintank. Und schließlich die beiden Wasserkanister. Als ich fertig bin, wiegt die XT ungefähr neun Zentner. Ich fühle mich, als würde ich einen schweren Panzer fahren, aber einen mit nur zwei Rädern.
Selbstauslöser: Zentralsahara, Tanzerouft. [Foto: privat]
Stürze ich wieder einmal mit Maschine und Ladung in einem der ausgedehnten Weichsandfelder, beginnt eine schweißtreibende Prozedur: entladen, Maschine aufheben, zu einem festeren Untergrund schieben, manchmal mehrere Hundert Meter. Dann das im Weichsand liegende Gepäck zur Maschine schleppen. Aufladen. Aber ich schaffe es bis Gao. Dort treffe ich einen Kanadier namens Bob Vance, einen früheren Buschpiloten. Er lädt mich in sein Haus ein, und hier erhole ich mich eine Woche lang von den Strapazen. Mit Schlafen, Essen und eiskaltem Bier. Und sammle so Kraft für die große und schwerste Etappe meiner Reise durch die Zentralsahara.
Sie beginnt damit, dass ich stürze, in der Nähe von Tessalit, dem Grenzposten zu Mali. Bei dem Sturz löst sich einer der Benzinkanister aus seiner Befestigung, segelt durch die Luft, schlägt auf und entzündet sich. Glücklicherweise brennt das Benzin weit genug vom Motorrad entfernt. Aber jetzt fehlen mir 20 Liter Benzin, und ich werde es mit dem restlichen Benzinvorrat nicht bis zur nächsten Tankstelle schaffen. Ich fahre nach Tessalit und versuche, dort Benzin zu bekommen. Offiziell ist das unmöglich, aber über dunkle Kanäle, Schmiergeld und Beziehungen gibt es wohl eine Chance. Ein paar Tage dauert es, dann habe ich meine 20 Liter beisammen – und dafür rund 100 Mark bezahlt.
So kann ich endlich weiterfahren, aber nach nur wenigen Kilometern ist schon wieder Ende: Weil ich nur nach Kompass fahre, gerate ich in militärisches Sperrgebiet. Soldaten halten mich an, nehmen mich, ihre Gewehre auf mich gerichtet, fest und bringen mich zurück nach Tessalit. Sie nehmen mir meinen Pass ab. Auch den Motorradschlüssel kassieren sie ein. Sie befehlen mir, mein Zelt neben der Polizeistation aufzubauen. Anschließend werde ich verhört, darf dann zurück zu meinem Lagerplatz, werde aber bewacht. Sieben Tage geht das so: Die Situation scheint ausweglos zu sein, ich kann den Kommandanten nicht davon überzeugen, dass ich kein Spion bin, sondern nur ein Abenteurer auf dem Weg nach Hause. Er wartet auf Order aus Bamako.
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