Eine Bundesstraße bei Heidelberg überquert die Autobahn. Eine Betonbrücke, rund zehn Meter breit, zwei Fahrstreifen, eine Spur für Radfahrer und eine für Fußgänger. Zu beiden Seiten ein Stahlgeländer, einen Meter hoch, am oberen Rand ein zehn Zentimeter breiter Handlauf. Und darauf steht ein Junge. Die Füße hintereinander gesetzt, mit Armen und Oberkörper balancierend. Rechts geht es einen Meter tief auf die Brücke. Links 15 Meter tief auf die Autobahn.
Es ist vier Uhr morgens. Auf der Bundesstraße fahren noch keine Autos, aber unten auf der Autobahn rauscht schon vierspurig der Urlaubsverkehr. Doch das scheint der Junge nicht zu registrieren. Er ist ganz darauf konzentriert, das Gleichgewicht zu halten, um nicht vom Geländer zu stürzen, weder nach rechts auf die Brücke noch nach links auf die Autobahn. Denn das würde den Tod bedeuten.
Das Balancieren auf dem Brückengeländer ist der Auftakt zu einem aufregenden und intensiven Leben. Zu einem Leben, in dem es immer um Mut und Gefahr, um Risiko, um Freiheit und Glück geht. Der fünfzehnjährige Junge, der an diesem 12. Juni 1972 auf dem Geländer balanciert, ist Jochen Schweizer. »Ich dachte, dass meine Höhenangst verschwindet, wenn ich nur lange genug da oben stehe«, sagt er Stunden später der Polizei, die ihn schließlich vom Geländer holt.
Eine radikale Methode. Aber sie hat funktioniert.
Prolog
»Warum Menschen fliegen können müssen«, lautet der etwas ungewöhnliche Titel dieses Buches. Dennoch, trotz oder vielleicht gerade aufgrund des Titels haben Sie dieses Buch gekauft. Ihn zu wählen war mir ein Anliegen, weil ich glaube, dass eine einfache, aber wichtige Botschaft darin steckt. Dabei geht es keineswegs nur um das Fliegen im konkreten Sinne, sondern vielmehr um das Fliegen im übertragenen Sinne, als Lebenshaltung. Allerdings ist der tatsächliche Flug das wohl überzeugendste Bild dafür: Mensch sein heißt, an das Unerreichbare zu denken – und es manchmal wahr zu machen.
Fliegen bedeutet, die Grenzen des Hier und Jetzt zu sprengen, die eigene Angst zu überwinden und letztlich den Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Natur ein Schnippchen zu schlagen – zumindest für einen kurzen Augenblick. Jeder Mensch kann das! Ich glaube sogar, dass jeder das tun muss, wenn er fühlen will, wie viel Lebendigkeit tatsächlich in ihm steckt. Es braucht dazu freilich die Bereitschaft, die Sicherheit der Routine aufzugeben.
Und meine eigene Rolle dabei? Heute weiß ich, dass es ein besonderes Talent von mir ist, vielleicht sogar eine Art Berufung, Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie nicht tun würden, wenn sie mir nicht begegnet wären.
Ich werde für meine Arbeit immer wieder kritisiert. Die einen meinen, es sei völlig nutzlos, unproduktiv oder unnötig gefährlich, Menschen Erlebnisse zu verkaufen. Zumal, wenn es potenziell riskante Erlebnisse sind: Rennwagen fahren, Fallschirmspringen oder Eisklettern beispielsweise. Andere wiederum sagen, ich würde Menschen einer bequem gewordenen Gesellschaft zu künstlichen Thrills verhelfen, die von den eigentlichen Problemen nur ablenken. Ich glaube nicht, dass diese Kritiker recht haben. Die Turmspringer auf Pentecost haben lustvoll ihre Flüge erlebt und genossen, lange bevor Soziologen Begriffe wie Spaß- oder Erlebnisgesellschaft geprägt haben. Aber auch bei ihnen gibt es den Baumeister des Turms oder die Coaches der Springer. Ich tue nichts anderes. Ich helfe Menschen dabei, für einen Moment aus ihren Gewohnheiten auszusteigen und außergewöhnliche Momente zu erleben. Momente, an die sie sich erinnern können, immer und immer wieder. Es sind diese Momente, die in der Erinnerung aus den grauen Alltagsbildern hervorleuchten. In der Erinnerung sind sie viel länger und intensiver als ein ganzes Jahr längst vergessener Routine. Außerdem nimmt die Erinnerung an positiv bewältigte Herausforderungen die Angst vor der Zukunft. Wer Vertrauen zu sich selbst hat, macht weder anderen Angst noch lässt er zu, dass andere ihm Angst machen. Unsere Gesellschaft braucht eigentlich noch viel mehr solcher Menschen!
Das Er-Leben steht im Mittelpunkt meines Lebens. Und es steht im Mittelpunkt dieses Buches. Mein Mentor Rudolf Niehaus schrieb mir einst – als ich, ein junger Logistiker, unter kämpfenden Milizen ein Schiff in Beirut, Libanon, entladen hatte: »Give all, take all.« Danach lebe ich bis heute. Ich lerne und ich lehre. Dieser Kreislauf von Denken, Fühlen, Erleben ist die Grundlage für mein Handeln, und deswegen unterscheide ich auch kaum zwischen Geschäft und Privatem. Ich handle häufig spontan, sozusagen aus meiner Mitte heraus. Die Erfahrungen und Gefühle, die dabei entstehen, wirken auf den Unternehmer Schweizer ebenso wie auf den Privatmann Schweizer.
Mir werden überall und immer wieder dieselben Fragen gestellt: »Wie war das denn damals mit dem Springen? Warum haben Sie denn immer wieder die Gefahr gesucht? Hatten Sie denn bei den Stunts nie Angst vor dem Tod?« Diese Fragen stören mich nicht, denn sie zeigen mir, dass sich die Menschen für mein Leben interessieren. Dieses Interesse hat mich dazu veranlasst, mich noch einmal mit meinen Entscheidungen und Taten auseinanderzusetzen und Wichtiges davon aufzuschreiben. Das war sehr bewegend, denn immer wieder bin ich in meiner Erinnerung auf Situationen gestoßen, die ich ohne großes Nachdenken bewältigt habe. Heute jedoch, im Rückblick, ist meine Sicht auf die Ereignisse klarer, und ich weiß besser, wie sich diese Situationen in mein Lebenspuzzle einfügen. Manchmal war das Erinnern ein schmerzhafter Prozess. Denn natürlich gibt es auch in meinem Leben dunkle, wunde Punkte, die jahrelang ganz tief in meiner Seele vergraben waren. Einige davon haben mich belastet, ohne dass ich es überhaupt bemerkt hätte. Bis ich begann, dieses Buch zu schreiben. Auch auf die Frage nach der Angst vor dem Tod kann ich mittlerweile eine für mich überzeugende Antwort geben. Für mich ist die Frage falsch gestellt. Die eigentliche Frage lautet doch vielmehr: Was wäre der Tod ohne das Leben davor?
Wer sich erinnert, lebt zweimal. Insofern war das Schreiben des Buches für mich ein Er-Leben der besonderen Art. Und es zu lesen ist – hoffentlich – ein Erlebnis für all diejenigen, die etwas über Zuversicht und entschlossenes Handeln – nicht über Angstlosigkeit – wissen wollen. Darüber, warum Menschen fliegen können, warum sie fliegen können müssen!
Ich wünsche Ihnen intensive Momente bei der Lektüre dieses Buches. Aber vergessen Sie nicht: Es gibt Dinge, die kann man nicht beschreiben. Die muss man machen.
Jochen Schweizer
Kapitel 1
Sturm und Drang in Heidelberg
Stünde ich vor Gericht, würde mein Anwalt in seinem Plädoyer den klassischen Grund für meine Tat nennen: »Mein Mandant hatte eine schwere Kindheit.« Mein Vater ging (oder wurde vertrieben), noch bevor ich geboren war. Meine Mutter arbeitete sechs Tage die Woche als Sekretärin; ich sah sie nur frühmorgens und spätabends und am Sonntag. Wir Kinder, meine Schwester, mein Bruder und ich, waren Schlüsselkinder.
Spätestens jetzt aber würde ich rufen: »Einspruch, Euer Ehren.« Denn diese Sätze zeichnen ein falsches Bild. Ja, meine Mutter hat viel gearbeitet. Aber wie hätte sie uns sonst durchbringen sollen? Ja, es ging bei uns turbulent und chaotisch zu. Und ich war auf zehn verschiedenen Schulen, bis ich irgendwie mein Abitur schaffte. Aber eine »schwere Kindheit«? Das klingt nach Prügel, Lieblosigkeit und Einsamkeit. Das gab es auch, aber nicht nur. Und mit dem Schlüssel um den Hals hatte ich immerhin auch eine Menge Freiheit.
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