Aber wenn wir in Zotzenbach an der Bergrennstrecke im Odenwald samstags oder sonntags unseren Mut kühlten und dann nach einigen Stunden irgendwo auf einer Wiese lagerten, mit gutem Überblick über die Kurven, dann bekam ich jedes Mal eine Gänsehaut, wenn eine Königswellen-Duc vorbeihämmerte. Die Königswelle, genauer gesagt: die Desmotronik-Zwangssteuerung, ist ein geniales, allerdings hochempfindliches Ventilsteuerungssystem, das von einem deutschen Ingenieur – König – entwickelt wurde. Ein so gesteuerter 900-cm 3-Zweizylindermotor erzeugt in Verbindung mit Lafranconi-Schalldämpfern und offenen 52er Vergasern ein Ansaug- und Abgasgeräusch und eine Vibration – das ist einfach von einem anderen Stern.
Mitte der Neunziger mietete ich ein Lager bei München und war fassungslos, unter einem riesigen Berg alter leerer Kartoffelsäcke genau dieses Motorrad zu entdecken. Für 2.000 Mark und im Tausch gegen meine XT 600 übernahm ich sie vom Eder Bauer. So heißt unser Vermieter und Eigentümer des Bauernhofs, auf dem ich die »Unerreichbare« gefunden hatte.
Wieder hatte sich etwas in meinem Leben manifestiert, was ich mir einmal ganz stark gewünscht hatte. Dann hatte ich diesen Wunsch in meinem Unterbewusstsein irgendwo vergraben. Den originalen Verkaufsprospekt von 1978, den hatte ich aber in meinen Unterlagen, und irgendwie war er immer mal wieder aufgetaucht.
Warum die Hersteller der Maschine den Namen »Dharma« gaben, weiß ich nicht, und ich muss zugeben, dass ich mich in den 70er- oder 80er-Jahren weder mit dieser Frage noch mit der Frage, was Dharma überhaupt bedeutet, jemals beschäftigt hätte. Das hat sich später geändert, und als ich die Kartoffelsäcke beiseiteräumte, bekam ich beim Lesen dieses spirituellen Begriffs eine Gänsehaut. Irgendwie schloss sich so ein Kreis für mich. Denn ich war zu dieser Zeit dabei, mich intensiv mit den buddhistischen Gesetzen des Dharma zu beschäftigen, und nun entdeckte ich dieses Motorrad.
Eines der Gesetze des Dharma besagt, dass es nicht so sehr darum geht: »Was springt dabei für mich heraus?«, sondern eher um die Frage: »Wie kann ich helfen?« Ein anderes Gesetz sagt, dass jeder Mensch ein ureigenes Talent besitzt, ein Talent, das ihn einzigartig macht und ihn von allen anderen Menschen unterscheidet. Das Gesetz sagt, dass dies für jeden Menschen gilt, der auf dieser Welt existiert. Ich habe sehr lange gebraucht, um mein ureigenes Talent zu entdecken – obwohl ich es eigentlich von frühester Kindheit an ausgelebt habe. Andere Menschen dafür zu begeistern, etwas zu tun, einen Weg zu gehen, ein Abenteuer zu unternehmen, hat mir schon immer Freude gemacht.
Vielleicht ist der heutige Erfolg meines Unternehmens gar nicht so sehr das Ergebnis rational richtiger Managemententscheidungen – und damit nicht rational, sondern karmatisch begründbar.
In Schwierigkeiten geraten bin ich eigentlich immer dann, wenn ich verkopft, rein rational, aufgrund von Messungen und Analysen entschieden habe. Solche Entscheidungen haben mich meist in die falsche Richtung bewegt. Immer aber, wenn ich aus dem Bauch heraus mit einem guten Gefühl entschieden habe, sozusagen aus meiner konzentrierten Mitte heraus, dann war es eine gute Entscheidung. Selbst wenn sie mir am Anfang irrational erschienen sein mag.
Überhaupt ist das ständige Testen und Analysieren eigentlich eher ein Zeichen von Unsicherheit. Vielleicht sogar von Angst. Unsicherheit und Angst, die daraus resultieren, dass man selbst den Bezug und das Gefühl dazu verloren hat, was richtig ist beziehungsweise was sich richtig anfühlt. Richtig oder falsch, das sind ja sowieso keine wirklich greifbaren Begriffe. Es ist doch letztlich alles nur eine Frage des Standpunktes. Und damit schließt sich auch der Kreis zu dem, was Buddha als »mittleren Weg« bezeichnet hat: Der mittlere Weg ist nicht das arithmetische Mittel zwischen zwei Extremen, sondern das Erreichen eines Standpunktes, von dem aus betrachtet es eigentlich egal ist, was ist. Von dem aus betrachtet alles seine Berechtigung hat.
So setze ich eben weiterhin einen Fuß vor den anderen und beobachte – manchmal staunend –, wohin der Weg mich führt.
Kapitel 2
Abenteuer Afrika
Ein Jahr vor dem Abi, in den Sommerferien, war ich mit meiner Yamaha 350 bis nach Marokko gefahren. Auf dieser Reise hatte ich mich gleich dreifach verliebt: in Afrika, in die Wüste und in die Grenzenlosigkeit von Zeit und Raum. Diese dritte Leidenschaft konnte ich auf der Reise aber nicht wirklich ausleben: Im Süden Marokkos, an der Grenze zu Spanisch-Sahara bei Sidi Ifni, dem damals von Marokko und Algerien umkämpften Gebiet, war Schluss; kein Durchkommen. Nächstes Jahr komme ich wieder, dachte ich mir, besser ausgerüstet und besser vorbereitet.
Und so war es dann auch. Meine Afrika- und Wüstentour vom letzten Sommer, die Landschaft, die Weite und die Einsamkeit gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, und so beschließe ich, jetzt, nach meinem Schulabschluss, eine zweite Afrikareise zu machen. Dieses Mal soll es grenzenlos sein, mit offenem Ende. Fahren, so weit es mich bringt, jeden Morgen aufstehen und nicht wissen, wo ich am Abend sein werde. Keine Rückkehr planen und damit auch nicht daran denken müssen. Ich stelle es mir wunderbar vor.
Ich weihe Caspar in meine Pläne ein. Er ist mein bester Freund, auch Motorradfahrer, auch er kann sich begeistern für die Freiheit auf zwei Rädern, für Afrika. Aber eine Tour, wie ich sie vorhabe, erfüllt ihn mit Skepsis. Caspars Eltern sind beide Ärzte, sein Vater, Dr. Fritz Thierfelder, ist Radiologe im Ärztehaus Heidelberg, seine Mutter ist Kinderärztin mit eigener Praxis. Die Familie gehört zur guten Gesellschaft von Heidelberg, und auch Caspar gilt nicht gerade als Aussteiger. Er hat ordentlich seine Schulzeit hinter sich gebracht, sein Abitur gemacht und steckt mitten im ersten Semester seines Medizinstudiums.
Wir unterscheiden uns sehr voneinander. Ich bin leicht zu begeistern, sehe eigentlich nie ein Problem (jedenfalls bis es mich auf die Nase haut) und bin stets guter Dinge. Caspar ist intellektuell, gedankenschwer, skeptisch. Er überlegt lange und gründlich, aber wenn er sich einmal entschieden hat, dann geht er seinen Weg. Ich beschreibe ihm Fahrten durch einsame Landschaften, Begegnungen mit fremden, exotischen Menschen, warme Wüstennächte unter sternenklarem Himmel. Und merke, wie es ihn packt. Er gibt zu, dass er im Sommer zwei Monate Semesterferien hat. Aber noch ist er nicht so weit. Ich gebe Ruhe. Und ihm Zeit.
Drei Wochen später willigt er ein. Er kommt mit, aber zum Herbst will er zurück sein und weiterstudieren, egal, wo wir dann sein würden. Abgemacht. Unser Ziel ist Lomé in Togo, gut 9.000 Kilometer Fahrtstrecke, davon 5.000 Kilometer durch die Sahara. Von Lomé will Caspar Anfang Oktober zurückfliegen.
Im Mai machen wir uns an die Vorbereitungen. Wir verkaufen unsere Straßenmaschinen und erstehen stattdessen zwei Yamaha XT 500 – gerade neu auf dem Markt und später der Klassiker schlechthin für Abenteuertouren. 500 Kubikzentimeter, ein Zylinder, wuchtiges Drehmoment, hochbeinig, robust. Für mich geht der Kauf nicht ohne Hilfe: Caspars Vater leiht mir Geld. Und überlässt uns darüber hinaus in den folgenden Monaten seine Garage für die erforderlichen Umbauarbeiten an den Motorrädern. Eine Garage in bester Lage und Wohngegend von Heidelberg, hoch oben am Berg mit einem herrlichen Blick über die Neckar- und die Rheinebene.
Wir legen sofort mit der Schrauberei los: breite Sandreifen, stabile Gepäckträger, ein riesiger Tank. Anders gesagt: weniger Höchstgeschwindigkeit, dafür mehr Leistung bei niedrigen Geschwindigkeiten. Zudem bauen wir dickere Zylinderfußdichtungen ein, damit die Motoren auch schlechtes Benzin vertragen – mit dem in Afrika häufig zu rechnen sein wird. Und natürlich stellen wir ein umfangreiches Ersatzteillager zusammen. Dazu der Papierkram, vor allem besorgt sich jeder von uns einen zweiten Reisepass.
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