Niemals werde ich vergessen, was ich gefühlt habe, als ich mich mit meiner überschweren Maschine allein durch den heißesten Teil der Zentralsahara gekämpft habe. Als ich morgens auf einer Anhöhe erwachte, auf der ich mich nach langer Fahrt schlafen gelegt hatte, und einfach nur, noch halb im Schlafsack sitzend, ans Motorrad gelehnt meine Augen über diese endlose Landschaft gleiten ließ. Da war niemand, so weit ich sehen konnte, Hunderte Kilometer nur Stille und unendliche Weite. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dasaß, ohne zu denken. Irgendwann muss ich dann aufgebrochen sein.
Danke, Afrika.
Kapitel 3
Unterwegs in Sachen Versicherungen
Ich verabschiede mich von Rudolf Niehaus und seiner Familie, fahre mit gemischten Gefühlen von Genf nach Heidelberg, die letzten Kilometer meiner Reise. Natürlich freue ich mich, wieder nach Hause zu kommen. Aber ich weiß, es wird eine Rückkehr in mein »früheres Leben« sein. In mein kleines Zehn-Quadratmeter-Zimmer in diesem Heidelberger Studentenhaus. Passe ich da noch hin und rein? Die Ankunft zu Hause, das Wiedersehen mit Carolin ist schön; ich freue mich wirklich, wieder da zu sein. Ausführlich erzähle ich ihr und meinen Freunden von meiner Reise. Ich bin der Held, der nach dem Kampf mit dem Drachen zurückgekehrt ist und sich jetzt ausruhen will. Aber Carolin und ich »fremdeln« zu Beginn unseres Wiedersehens. Sie spürt, dass ich mich verändert habe – dass ich nicht wirklich zurück nach Hause gekommen bin. Es dauert eine ganze Weile, bis wir unsere Verbundenheit wiederfinden. Und doch – es hat sich etwas verändert. Die unbeschwerte naive Leichtigkeit unserer frühen Liebe ist verschwunden.
Ich brauche nicht lange, dann merke ich, dass mein Zuhause nicht mehr mein Zuhause ist; zu sehr hat mich dieses Abenteuer verändert. Und natürlich merken die Freunde das auch. Heidelberg ist mir plötzlich zu klein, zu spießig, zu langweilig. Ich fühle mich wie ein Tiger im Käfig. Um mich herum ist Weihnachtsrummel: inszenierte Kaufhausromantik, Berge von Geschenken, erzwungene Festtagsharmonie in den Familien. Ich gehöre nicht mehr dazu, weil ich ein anderer geworden bin.
Das neue Jahr beginnt in Heidelberg mit Studentendemos gegen die Erhöhung der Straßenbahnpreise. Um zehn Pfennig. Ich sehe die Studenten skandierend und Fahnen schwingend an mir vorüberziehen. Zehn Pfennig. Vier Wochen zuvor habe ich Menschen im Straßengraben liegen sehen, die sind verreckt, weil sich keiner für sie interessiert hat. Ich begreife nicht, warum diese Leute so viel Kraft und Energie investieren – um pro Straßenbahnfahrt zehn Pfennig zu sparen. Ich stehe am Straßenrand und blicke auf dieses Szenario. Und wieder spüre ich, in einer Intensität, dass es mich beinahe zerreißt: Ich gehöre nicht mehr hierher. Ich bin hier nicht mehr zu Hause.
Ich überlege, wie es weitergehen kann. Ich sehne mich zurück nach Afrika. Aber das kommt im Moment nicht infrage, allein schon deswegen, weil ich nicht nur pleite bin, sondern noch 3.000 Mark Schulden bei Caspars Vater habe. Ich muss schnellstens einen Job finden, der Geld in die Kasse bringt – wie soll es langfristig weitergehen? Ich bleibe gedanklich an der Zukunft hängen, die sich jedem Abiturienten auftut: studieren. Aber was? In der Schule hatte mir Sport immer am meisten Spaß gemacht, das war klar. Das zweite Spaßfach war Biologie gewesen; außerdem hatte ich immer schon Aquarien gehabt. Also: Sport und Biologie. Aber an der Uni einschreiben kann ich mich erst im September, bis dahin ist es noch ein Dreivierteljahr. Das nächste Ziel ist also geklärt. Jetzt ran an die Jobsuche. Wieder im Wald zu malochen, das kommt für mich nicht mehr infrage. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Also blättere ich in den Stellenanzeigen der Rhein-Neckar-Zeitung und stoße auf die Anzeige einer Versicherung: »Versicherungsvertreter für den Raum Karlsruhe gesucht.
3.000 Mark Grundgehalt.« Als Schuldner sehen meine Augen natürlich nur das Geld; da müsste ich nicht lange arbeiten, um Caspars Vater sein Darlehen zurückzahlen zu können. Also los. Ein Freund leiht mir seinen Anzug und zeigt mir, wie man eine Krawatte bindet. Leider kann er mir nicht auch noch mit Schuhen aushelfen, und so mache ich mich mit Anzug und Motorradstiefeln auf nach Karlsruhe.
Das Vorstellungsgespräch führe ich mit einem Herrn Schulze. Er ist um die fünfzig, dickleibig, angepasst, servil. Ich komme gerade aus Afrika, bin Held und Drachentöter. Herr Schulze fragt mich nach meinen bisherigen Berufserfahrungen. Ich lasse mich dazu herab, ihn ein bisschen an meinem Afrika-Abenteuer teilnehmen zu lassen. Herr Schulze wirkt leicht säuerlich. Und wie stelle ich mir meine berufliche Zukunft vor? Ich bringe den Gag von meiner Studienwahl: Sport sowieso und Biologie wegen der Aquarien.
Befremdet von so viel Coolness und Desinteresse beendet Herr Schulze das Gespräch, und ehe ich es begreife, stehe ich draußen auf der Treppe. Oh, denke ich, das ist ja wohl nicht so gut gelaufen. Aber ich weiß nicht so genau, was ich falsch gemacht habe. Ich fand mich ziemlich gut. Ich stiefele gedankenverloren die Treppe runter, als mich jemand anrempelt. Ich gucke hoch: Jungdynamiker, Anzug, Aktentasche, nimmt beim Weiterlaufen immer drei Stufen auf einmal. Bleibt dann stehen, dreht sich um, guckt mich an: hagerer Typ, Hakennase, ganz scharfe Augen, ganz wacher Blick. Ich fühle mich wie ein Kaninchen, das gleich vom Falken gerissen wird. Er fragt mich, wo ich herkomme, und ich sage ihm, dass ich mich da oben gerade vorgestellt hätte, aber dass die so einen wie mich wohl nicht brauchen können. »Na«, sagt Hakennase, »dann kommen Sie noch einmal mit hoch. Schauen wir mal, ob wir nicht doch was für Sie finden können.« Und so marschiere ich mit Heinz Goger, dem Chef der Filiale, an Herrn Schulze vorbei, der uns verdutzt hinterherschaut.
Herr Goger stellt mir die gleichen Fragen wie Herr Schulze, aber anders als sein Mitarbeiter scheint der Chef des Hauses Vertrauen in mich zu haben. »Jetzt fangen Sie erst einmal bei uns an, und dann schauen wir mal, was wir aus Ihnen machen können.« Eine halbe Stunde später bin ich eingestellt. Für 3.000 Mark Grundgehalt. Mit stolzgeschwellter Brust sause ich die Treppe hinunter, auf der ich kurz zuvor noch an mir gezweifelt hatte. Ich habe einen Job – ich habe eine Perspektive. Es waren meine Augen, sagte mir Herr Goger Monate später, als wir Freunde geworden waren und im Heidelberger Restaurant »Pop« beim Abendessen saßen. Noch nie habe er so wilde Augen gesehen, sagte er.
Doch am Montag nach meiner Einstellung zeigt sich mein Leben als Versicherungsvertreter von der ganz harten Seite. Vor dem Geldverdienen muss auch ich wie alle Neulinge in die Weihen und Geheimnisse des Berufs eingeführt werden: vier Wochen Seminar. Kaserniert in der Lüneburger Heide. Es ist Februar, die Landschaft kalt, grau und einsam. Das Seminarhotel hat auch schon bessere Zeiten gesehen, und mein Zimmer ist so klein, dass mein Koffer ans Bett knallt, wenn ich ihn öffne.
Im Seminar um mich herum fast alles mehr oder weniger gescheiterte Existenzen, die es nun noch einmal probieren wollen mit einem Job. Sie saugen alles auf und schreiben fleißig mit, was die dickbäuchigen Dozenten mit ihren gelben Krawatten auf bunten Hemden an Tipps und Tricks so von sich geben. Zum Beispiel, wie man sich in eine zunächst nur knapp geöffnete Wohnungstür reindrängt: lächeln, Blickkontakt, »Guten Tag, ich komme von der Versicherung«, jetzt Griffwechsel, Aktentasche von der rechten in die linke Hand, »Mein Name ist …«, jetzt Hand ausstrecken zur Begrüßung, »Ich bin gekommen, um Sie zu beraten«. Drin.
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