Und dann die einzelnen Versicherungen. Der Tarif 14 zum Beispiel. Der ist ideal für junge Akademiker, die gerade geheiratet haben und demnächst ein Kind haben wollen. Die haben nämlich trotz Beitragszahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung in den ersten fünf Jahren eine Deckungslücke bei Berufsunfähigkeit. Aber dafür sind wir ja da, wir von der Versicherung. Wir können diesen Menschen nämlich ein besonderes Angebot machen: eine Kapitallebensversicherung, kombiniert mit einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung – und das zu überaus attraktiven Konditionen. Doppelte Leistung, wenn die Berufsunfähigkeit durch Unfall ausgelöst wird. Was wir den Akademikern natürlich nicht sagen, ist, dass das Attraktivste daran die Abschlussprovision ist, die wir kassieren.
Ich fliehe. Aber nur in Gedanken. Raus aus dem Seminar. Raus aus der grauen, kalten Landschaft. Ich schaue auf meine Hände; die letzten Blasen sind noch nicht ganz verheilt. Die Haut ist noch braun gebrannt, rissig. Afrika. Was zum Teufel mache ich hier?
Am dritten Abend sitze ich depressiv in meiner Zelle und denke an eine Flucht; das halte ich nicht noch vier Wochen aus. Nicht mit diesen Leuten und nicht in diesem winzigen Zimmer. Andererseits will ich nicht aufgeben. Ich will durchhalten. Aber ich brauche Luft, Raum, Natur. Kurz entschlossen zerre ich die Matratze aus dem Spanplattenbett, greife Bettdecke und Kopfkissen. Fenster auf, raus aus dem Haus, rüber in den gegenüberliegenden Wald. Ich suche mir einen Lagerplatz unter einer großen Eiche und lege mich auf die Matratze. Jetzt fühle ich mich besser. Die Kälte stört mich nicht. Außerdem trage ich alle Klamotten, die ich dabeihabe. Im Hoggar, vor einigen Wochen, habe ich mehr gefroren als jetzt. Zudem habe ich noch so viel Sonne gespeichert, da überstehe ich im kalten Norddeutschland locker eine Februarnacht. Und danach noch eine. Und dann fast jede Nacht in diesen vier Wochen. Tagsüber passe ich mich an, ertrage den Schnellkurs in rhetorischen Tricks und Versicherungstarifen; überhöre die anderen, wenn sie mich wegen meines »Freiheitsticks« aufziehen. Nachts liege ich im Wald und finde zu mir.
Ich halte durch, und nach vier Wochen bin ich offiziell Versicherungsvertreter. Die wichtigsten Tricks und Tipps haben wir Anfänger jetzt drauf, aber natürlich bekommen wir alle an unseren jeweiligen Arbeitsorten noch einen Ausbilder zugewiesen. Meiner, in Karlsruhe, ist – Herr Schulze. Der macht gar keinen Hehl daraus, dass er erstens immer noch sauer darüber ist, dass er mich rausgeschmissen und Herr Goger mich trotzdem eingestellt hat. Und dass er mich zweitens für einen Versager hält. Notgedrungen bildet er mich aus, schleppt mich mit zu seinen Kunden und zu denen, die es werden sollen.
In den Gesprächen merke ich, dass Herr Schulze nicht nur wenig Ahnung von den Leistungen und den Tarifen unserer Versicherungen hat. Er hat auch kein Interesse. Weder an den Versicherungen noch an den Menschen, mit denen er spricht und denen er etwas verkaufen will. Seine Hauptaufgabe sieht er offensichtlich darin, mich niederzumachen, zu beleidigen, zu verachten. Genüsslich erklärt er mir, was es mit den 3.000 Mark Grundgehalt auf sich hat: Jeder Versicherungsabschluss wird intern mit Punkten bewertet. Eine hohe Versicherungssumme bringt viele Punkte. Die 3.000 Mark gibt es nur für die Mitarbeiter, die pro Monat Versicherungen im Wert von 100 Punkten abschließen. Wer keine 100 Punkte schafft, bekommt nur die Provisionen. Und wer gar nichts verkauft, bekommt – nichts.
Bei und gegen Herrn Schulze habe ich keine Chance; er wird mich nie darin unterstützen oder anleiten, auch nur eine einzige Versicherung zu verkaufen. So halte ich zwar still, spiele weiter Herrn Schulzes Azubi, aber inoffiziell orientiere ich mich an Herrn Goger. Er ist ein erstklassiger Verkäufer und hat einen sehr guten Draht zu Menschen. Wann immer es geht, versuche ich mit ihm zusammenzukommen, damit er mir von seinen Geschäften erzählt. Er hat tolle Ideen, um an potenzielle Kunden zu kommen.
Er geht zum Beispiel regelmäßig in die Immatrikulationsbüros der umliegenden Unis, plaudert und flirtet dort mit den Mitarbeiterinnen. Ein Strauß Blumen und ein paar Pralinen – und dafür bekommt er Namen und Adressen der Studenten, die gerade ihren Abschluss machen oder vor Kurzem fertig geworden sind. So hat er die Klientel, die im Seminar als ideale Kunden beschrieben worden ist: Akademiker, gerade mit dem Studium fertig, möglicherweise schon verheiratet, werdende Eltern oder sogar schon mit Kindern. Die warten geradezu darauf, dass wir ihnen unsere Versicherungen verkaufen. Haben wir gelernt. Eine andere gute Zielgruppe sind Prostituierte. Das hört sich verrückt an, ist aber knallhartes Geschäft, denn Prostituierte sind die beste Zielgruppe: Sie planen, ihren Job nur ein paar Jahre zu machen, sie sind überwiegend jung, haben meistens noch keine Lebensversicherung – und sie haben immer Bargeld. Damit können sie nach der Unterschrift die erste Rate sofort bezahlen, und das bedeutet für den Versicherungsvertreter, dass die Provision sicher ist. Einer hat sich extra einen VW-Bus zum Büro umgebaut, hat stets alle Unterlagen, Prospekte und Verträge dabei und kann so immer gleich zur Sache kommen. Versicherungstechnisch gesehen.
Ich frage Herrn Goger, ob er mir nicht drei Adressen aus seiner Akademikerkartei geben kann. Er hat inzwischen natürlich schon mitbekommen, dass es mit mir und Herrn Schulze nicht so gut läuft. Ich spüre, dass er mich mag, aber natürlich kann er Herrn Schulze, den offiziellen Ausbilder, nicht einfach übergehen. Also macht er aus meiner Bitte eine Ausbildungsübung, indem er Herrn Schulze vorschlägt, dass er, Goger, mich bei einem Kundenbesuch begleitet, um mal zu sehen, wie ich mich so mache; zwei weitere Kunden könne ich dann ja mal allein besuchen.
Ein paar Tage später sind Herr Goger und ich unterwegs zu einem jungen Architekten im Odenwald. Verheiratet. Ein Kind. Für einen Versicherungsvertreter ein klarer Fall. Ich habe zuvor einen Termin ausgemacht, nun sind wir da. Das Interesse ist groß, auf beiden Seiten; ja, die finanzielle Absicherung sieht momentan noch nicht so gut aus. Also lege ich los. Vier Wochen geballtes Wissen aus der Lüneburger Heide. Ganze Kapitel aus dem Handbuch für Versicherungsvertreter. Die frisch gelernten Rhetoriktricks. All unsere Versicherungstarife. Zukunftsvisionen. Nach einer Stunde mache ich die erste Pause. Und die nutzt der Architekt – und schmeißt uns raus.
Wir sitzen im Auto. Herr Goger ist nicht gerade glücklich, aber ernsthaft sauer ist er auch nicht: »Wissen Sie, Schweizer, das war ungefähr so, als hätten Sie dem armen Mann eine Stunde lang mit dem Holzhammer auf den Kopf gehauen.« Er rät mir, für heute Schluss zu machen, mich auszuruhen und dann ab morgen noch einmal zwei Wochen Schulze zu begleiten. Auf der Rückfahrt vom Odenwald nach Karlsruhe erklärt er mir ausführlich und geduldig in allen Einzelheiten, was ich alles falsch gemacht habe, und ich muss ihm in allen Punkten zustimmen. Ich habe es komplett versiebt, und zudem ärgert es mich, dass ich Herrn Goger enttäuscht habe. Kein guter Tag heute. Ich grübele noch den ganzen Nachmittag und Abend, mache mir Vorwürfe, frage mich, warum ich nicht gemerkt habe, wie es mit mir durchgegangen ist. Noch immer deprimiert, schlafe ich endlich ein.
Um fünf Uhr wache ich auf. Ich habe ja noch zwei Karten. Die nehme ich nun in die Hand, lese mir Namen und Adressen durch. Und entscheide mich für eine. Der Mann ist Jurist, hat gerade das Examen bestanden und geht demnächst ins Referendariat. Ohne vorher anzurufen, fahre ich hin, habe Glück, er ist da. Ich bin cool, weiß genau, was ich sage. Und höre nach den ersten Informationen auf. Der Mann stellt viele Fragen. Ich beantworte sie kompetent, freundlich, unaufdringlich. Eine Stunde später unterschreibt er den Vertrag für eine Lebensversicherung. 120 Mark im Monat. Ein Dauerschuldverhältnis über 35 Jahre. Über 50.400 Mark.
Читать дальше