Es wird nicht vielen abgehen …
Jetzt, fünf Jahre später, mit zweiundzwanzig, arbeitete Julie als Küchenhilfe in einem italienischen Restaurant in einer der Vorstädte von Baltimore, Maryland. Es war ihr vierter Job innerhalb eines Jahres, und das Ende war auch hier bereits absehbar. Es war nicht so, dass sie nicht arbeiten wollte. Sie bemühte sich redlich, aber sie stellte sich ungeschickt an, zerbrach Geschirr, verwechselte Zutaten und verbrannte sich die Finger an heißen Backblechen. Ein Psychologe hätte wahrscheinlich auf eine unbewusste, aber tief sitzende Lebensangst geschlossen, doch Julie war nie einem Psychologen begegnet. Als ihre Eltern noch lebten, hätten sie die Hinzuziehung eines Psychiaters als einen Schandfleck auf der Familienehre betrachtet, und nach ihrem Tod wäre es Julie niemals eingefallen, einem Fremden von Ängsten zu erzählen, die sie nicht einmal in Worte fassen konnte.
Eine Hand streifte über ihren Hinterkopf, und die Augenbinde fiel. Der Raum, in dem sie sich befand, war von Neonröhren so hell erleuchtet, dass Julie blinzelte. Als sich ihre Pupillen angepasst hatten, stellte sie fest, dass sie auf einem gynäkologischen Stuhl saß. Vor ihr standen zwei Frauen und musterten sie. Der Mann, dessen Stimme sie gehört hatte, stand im Hintergrund, ein hochgewachsener Schwarzuniformierter. Möglicherweise handelte es sich um einen der Männer aus dem Lieferwagen. Julie hatte ein schlechtes Gedächtnis für Gesichter und Namen.
Die beiden Frauen waren ebenso nackt wie Julie selbst und von unnatürlich blasser Hautfarbe. Eine hatte blondgelockte Haare und trug eine altmodische Hornbrille; sie war vielleicht vierzig Jahre alt. Die andere war wesentlich jünger und hatte kurze schwarze Haare. Beide trugen Halsbänder aus Stahl, von denen jeweils eine Kette locker zwischen den bloßen Brüsten bis zum Schritt hinablief, wo sie in einem an den kahlrasierten Schamlippen angebrachten Ring eingeklinkt war. Die jüngere Frau, bemerkte Julie mit wachsendem Entsetzen, trug auch Ringe in ihren Brustwarzen.
Und beide hatten am rechten Ohr eine blaue Plastikmarke, auf der eine Nummer stand.
»Sollen wir es auch gleich sterilisieren?«, fragte die Frau mit der Brille den Schwarzuniformierten.
Verständnislos folgten ihr Julies Blicke.
Der Mann runzelte die Stirn und blätterte in den Papieren, die er in der Hand hielt. »Besser nicht. Möglicherweise ist es für die Aufzucht vorgesehen.«
Er steckte die Papiere wieder ein, wandte sich wortlos um und verschwand im Korridor.
Julie folgte der für sie völlig unverständlichen Unterhaltung mit geweiteten Augen. Wo war sie hier hingeraten? Und wovon sprachen diese Menschen – Sterilisation, Aufzucht …?
Endlich dämmerte ihr die Wahrheit, und der Schock, den diese Erkenntnis auslöste, ließ ihren Herzschlag für einen Moment aussetzen.
Sie sprechen von mir! Mich wird niemand vermissen, für mich liegt noch keine Bestellung vor , ich bin möglicherweise für die »Aufzucht« vorgesehen!
Aufzucht – wovon?
Die Frau mit der Brille nahm einen Wattebausch, tauchte ihn in einen Behälter mit klarer Flüssigkeit und rieb damit eine Stelle an Julies rechtem Arm ab. Dann nahm sie eine Spritze zur Hand.
Jetzt erst kam wieder Leben in Julie. Sie schrie in den Knebel und versuchte, sich von den Fesseln loszureißen, die sie am Stuhl hielten, natürlich vergeblich.
»Keine Angst«, sagte die ältere Frau, und ihre Stimme klang tatsächlich beruhigend, »wir müssen dir nur ein wenig Blut abnehmen. Wenn du dich nicht wehrst, wirst du kaum etwas spüren.«
Julie zwang sich, ruhiger zu atmen, und entspannte sich.
Die Frau nickte. »So ist es gut. Mach eine Faust. Es tut gar nicht weh …«
Natürlich tat es weh, aber es war nicht allzu schlimm. Weniger schlimm jedenfalls als die namenlose Furcht, die Julies Gehirn bis in den letzten Winkel ausfüllte.
Als die Frau fertig war und die Ampulle mit Julies Blut in ein Analysegerät gestellt hatte, warf sie einen vorsichtigen Blick hinter sich, zu der offenen Tür des Raums, dessen Einrichtung jener eines Arztzimmers glich.
»Du trägst den Knebel wohl schon lange?«, fragte sie mit gesenkter Stimme.
Julie nickte heftig.
»Und die Kiefer schmerzen stark?«
Wieder nickte Julie und warf ihr einen flehenden Blick zu.
»Ich kenne das.« Die Frau mit dem Benehmen einer Ärztin zögerte. »Wenn du versprichst, leise zu sein, nehme ich ihn dir für kurze Zeit ab. Wenn das aber bemerkt wird, werden wir beide«, sie deutete nacheinander auf sich und die jüngere Frau, »streng bestraft werden. Wirst du ruhig sein?«
Julie nickte abermals. Sie war bereit, alles zu tun, um wenigstens für kurze Zeit von dem schrecklichen Marterinstrument befreit zu werden.
Kurz darauf konnte sie zum ersten Mal seit Stunden wieder ihren Mund schließen. Sie machte Kaubewegungen, um die verkrampften und schmerzenden Muskeln zu entspannen, und hauchte: »Wasser!«
Die Frau mit der Brille gab der Jüngeren einen Wink, und diese brachte eine Tasse mit Leitungswasser aus einem Waschbecken an der Seitenwand. Julie trank so gierig, dass einiges über ihr Kinn lief und auf ihre Brüste tropfte.
»Danke«, flüsterte sie dann. Scheu warf sie einen Blick in den Korridor: Niemand zu sehen, nichts zu hören.
»Wir müssen dich nun untersuchen«, sagte die Frau mit der Brille. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich habe Erfahrung in diesen Dingen. Ich war Ärztin – in einem anderen Leben.« Sie lächelte, und dieses Lächeln war frei von Wehmut oder gar Bitterkeit.
»Bitte«, flüsterte Julie, »das ist alles ein schrecklicher Irrtum! Ein Versehen! Ich hatte einen Urlaub gebucht, bei einer Firma mit dem Namen S & M Dreams Inc.!« Sie atmete tief ein und wieder aus. »Das hier … das ist eine Verwechslung!«
Die jüngere Frau schlug die Augen nieder und wandte sich ab. Die ehemalige Ärztin schüttelte den Kopf.
»Es ist kein Irrtum. Ja, S & M Dreams oder kurz SMD bietet solche Urlaube an und führt sie auch korrekt durch, in den meisten Fällen jedenfalls. Doch manche Frauen, die so einen Urlaub antreten, sind für andere Dinge vorgesehen. Sie verschwinden dann spurlos. Bevorzugt solche, die von niemandem vermisst werden, aber es gibt auch noch andere Kriterien.«
Neues Entsetzen flutete durch Julie und wusch alle Farbe aus ihrem Gesicht. Was sie vorher nur geahnt, nur befürchtet hatte, war auf einmal schreckliche Gewissheit geworden.
Sie sollte »verschwinden«!
Tränen füllten ihre Augen. »Bitte!«, flehte sie. »Sie müssen mir helfen! Sie müssen mich hier herausbringen! Irgendwie! Ich kann Ihnen Geld geben, ich habe einiges geerbt …«
Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Völlig ausgeschlossen. Ich kann dir nicht helfen. Niemandem ist es jemals gelungen, von hier zu entkommen, dazu sind die Sicherheitsvorkehrungen viel zu streng – und die Strafen, die auf Fluchtversuch oder Auflehnung stehen.« Ein abermaliger Blick in Richtung Tür. »Genug jetzt, wir müssen mit der Untersuchung beginnen.«
Sie wandte sich um und Julie sah, dass ihr Po von einem dichten Netz aus roten Striemen überzogen war. Hatte sie eine jener »strengen Strafen« erhalten, die sie vorhin erwähnt hatte?
Die Untersuchung dauerte über eine Stunde und war die umfassendste, die Julie jemals erlebt hatte. So etwa musste sich ein Tier in der Praxis eines Veterinärs fühlen. Sogar eine Stuhlprobe wurde ihr mittels einer Sonde entnommen. Sie schämte sich dabei so sehr, dass ihr erneut Tränen über die Wangen liefen, doch die Ärztin zeigte sich ungerührt. Die jüngere Frau notierte alle Ergebnisse gewissenhaft in einem Protokoll.
Endlich signalisierte die Ärztin, dass man fertig sei, und Julie atmete auf. Doch dann sah sie, wie die andere neben sie trat, einen Rasierpinsel und eine Schale mit Seifenschaum in den Händen.
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