»Jetzt dürfen wir erst mal gespannt sein, in was für windigen Wortschnörkeln der Chefredakteur sich in der nächsten Ausgabe zu entschuldigen weiß für die ungeheuerlichen Anschuldigungen, die sein ewig gestriger Tintenschleimer da verbrochen hat.«
»Na ja«, war seine Frau zur Stelle, »deine Artikel über die Londoner Fälle von neunjährigen, von zehnjährigen Mädchen …«
»Zwölf. Zwölfjährigen Mädchen.«
»… von zwölfjährigen Mädchen, die Lüstlingen zum Opfer fallen – und sowas nicht eindeutig zu verdammen, dich vielmehr reichlich liberal gegenüber so einigen abnormen Praktiken zu äußern, und das auch noch schriftlich, das ist natürlich auch etwas gewagt.«
»Vor dem Hintergrund prüder, biederer Moral vielleicht. Aber damit hab ich mich ja noch lange nicht des offenen Rechtsbruchs schuldig gemacht, wie dieser viertklassige Skribent in seiner käsestinkenden Gazette gekritzelt hat. Ich und offener Rechtsbruch! Als Jurist! Muss einem erst mal einfallen, so was.«
»Jede noch so barocke Entschuldigung«, gab Jelena Nabokov zu bedenken und wippte leicht mit der waagerechten Hand in der Luft, um ihrem Mann zu bedeuten, dass er sich gedämpfter Lautstärke befleißigen solle, »jede missratene Bitte um Nachsicht ist allemal besser, als wenn du ihn niederschießen müsstest.«
»Oder er mich«, lachte der Senator. Und stockte. War seines Sohnes gewahr geworden, der völlig verdattert unten vor der Treppe stand. Und ihn anstarrte. Flatternde Pupillen in schwarzen Augenhöhlen in kalkweißem Gesicht. »Junge, wie siehst du denn aus!«
Jetzt gabs kein Halten mehr, die Tränen rannen Vladimir übers Gesicht. Er ließ einfach laufen, hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich ihrer zu schämen. »Vater … Vater, du hast doch nicht, du wirst doch nicht …«
»Hast wieder kein Nastuch, Junge?!«, ging ihn die Mutter an.
10.
Montreux, Dachsuite des Palace-Hotels.
Anfang Februar 1991.
»Wolln wir ’n kleenet Spazierjängelchen wagen, Véra?«, fragte Belinda mit ungespielter Freundlichkeit.
»Ich wüsste nicht, dass wir beim Du sind.«
»Jut jut, dann eben: Kleenet Spazierjängelchen jefällig, Nabokovsche?«
»Wie käme ich dazu!«, kam es packeiskalt zurück.
»Na ja nu, ick weeß doch, is doch ’n Trauerspiel, wem’ma nich mehr loofen kann. Un Se sind doch Ihr Leben lang jeloofen. Als echtet Jranatenweib. Un hier dette, der See im Winta – schon sind Se in Jedanken wieda zu Haus. Sind zurück in’t jeliebte Petersburg. Wa? Oder Wyra. Wyra erst! De Datsche, Sommer mit den Jören, Vatta un Sohnemann hinter de Flatterbiesters hinterher. Un die Tochta un Sie uff de Terrasse un am Häkeln, Stricken, Französisch Parlieren. Idylle pur.«
»Ich habe Sie nicht gebeten, mir mein Leben zu referieren«, murrte Véra Jewsejewna Nabokov und streckte ihre Nase so hoch in die Luft, wie es der Ohrensessel zuließ, »noch weniger hab ich Sie gebeten, mir mit Ihrer albernen Küchenpsychologie in die Nieren zu treten.«
»Heh holla, war nich so jemeent. Wa? Nu ma nich so empfindlich, Frau Senator, nach allem, wat Se durchjemacht ham, hätt ick Sie doch bissken mehr Stehvermöjen zuje…«
»Es ist unglaublich, was Sie sich erlauben!«
»So, jute Frau, ick hab mir bei’t Personal ’n Rollstuhl orjanisiert.« Véras Protestversuche wischte Belinda mit einer einzigen Handbewegung vom Tisch, schob den scheppernden Rollstuhl aus der Türnische hervor, klappte ihn auseinander und schob ihn direkt neben Véras Sessel zur Seesicht. Blickte sie auffordernd an.
»Sie können sich die Chaise selbst unter den Allerwertesten schnallen und in den Schlund der Hölle eiern. Es ist mir herzlich egal. Aber verschonen Sie mich mit Ihrem missionarischen Eifer«, meckerte es aus dem Sessel. »Machen Sie, dass Sie verschwinden!«
»Nu ma langsam, Juteste. Wir ham immerhin jeschäftlich noch so Een’jet zu klärn. Wa?«
Unfassbar, diese freche Person, die das Oberwasser für sich gepachtet hatte. Die meinte, sie in der Hand zu haben. Und auch hatte. Mehr, verdammt mehr, als einem lieb sein konnte. Véra hatte sich also nicht getäuscht: diese ganze Freundlichkeit, der angebotene Spaziergang, das Einfühlen in ihre Erinnerungsvorräte, alles Strategie, alles Geschäftsgebaren, eine einzige Ausgeburt des Neids. Neid auf die Frau eines Dichters, eines weltberühmten Dichters.
11.
St. Petersburg.
Herbst 1915.
Nicht selten, insbesondere wenn die kalten Oktobernebel durch die Petersburger Straßen schlichen und die ganze Stadt in einen geheimnisvollen Hochzeitsflor hüllten, überkamen den Senator Anwandlungen, sich unter die Hafenburschen zu mischen. Dann machte er sich oft schon nachmittags auf, während seine Frau nichts ahnend beim Tee saß. Marschierte schnurstracks in den Kirovskij-Bezirk, schwenkte zum Hafen und suchte die eine oder andere finstere Spelunke auf, in die er vor Jahren vielleicht einmal geraten war und die ihm geradezu ans Herz gewachsen war. Oder eine Bierhöhle, die er zum ersten Mal betrat. Was seine Neugier noch mehr entflammte. Die Gänsehaut jedenfalls, die sich beim Aufschlagen des schweren Filzvorhangs im Windfang einer solchen Kneipe auf seinen Armen ausbreitete, war gradezu jugendlichem Vorwitz geschuldet. Keinesweg irgendeiner Angst vor den rauen Gesellen, die sich dort volllaufen ließen.
Er klemmte sich also an die Theke. Am liebsten so, dass er über den Rand seines Glases hinweg die Schänke im Blick hatte und das pokulierende Publikum in Augenschein nehmen konnte. Eine Position, in der er es problemlos stundenlang aushielt. Es sei denn – und genau das war heute der Fall: Sie waren aufgesprungen. Der eine ein Kerl wie ein Baum, der andre ein sehniger Gnom mit provozierend spielenden Muskelpaketen. Jeder an seiner Seite des Biertischs. Sie hielten die Hände an der Tischkante, drückten die Arme durch, standen sich gegenüber mit nach vorn gebogenem Rücken und blitzenden Augen. Gifteten sich an. Wie fauchende Kobras. Wortlos. Nur Blicke!
Sofort verstummte das muntere Getöse. Selbst die Rauchschwaden zogen sich aus lauter Angst zurück in die hintersten Ecken des Schankraums. Die Augen der beiden Kerle schienen sich ineinander verhakt zu haben, lösten keine Sekunde die Blickkrallen. Beobachteten jede Regung des anderen. Bis plötzlich – der Senator hätte nicht sagen können, welchem der beiden Kampfhähne als Erstem dieses Zucken durch die Handmuskeln krampfte. Der Rechte jedenfalls, der ungeschlachte Hüne, setzte plötzlich beide Arme gleichzeitig unter Spannung. Einmal ruckartig an der Tischkante gezogen, noch mal, und das ganze Sammelsurium aus halbleeren Gläsern, ausgelöffelten Soljanka-Tellern und speckig abgegriffenen Spielkarten rutschte seinem Kontrahenten gegen den Wanst. Den Überraschungseffekt nutzend, setzte der klobige Riesenklotz zum Schwung an und ließ die erste Faust fliegen. Krachende Landung. Trotzdem eine Faust zurück. Schlug klatschend aufs Ohr des Riesen, die zweite, die dritte zertrümmerte irgendein Nasenbein. Augenbrauen schwollen zu blutigen Wülsten. Fingerknöchel verstaucht. Aber die Hand fing die Faust des andern in der Luft, riss den Arm rum, bog ihn knirschend auf den Rücken. Andere Kerle griffen mit ein. Ein wüster Satanstanz hob an. Schrille Backpfeifen, klirrende Ohrschellen, dumpfe Schläge. Stühle wurden zu Schleudergeschossen, volle Bierflaschen zu Keulen, ausgerissene Tischbeine zu Dreschflegeln. Die halbe Belegschaft der Schweiß- und Schnapsdestille stand im Ring.
Das Kneipenidyll war dahin. Vermasselt der bierselig saumselige Feierabend. Nabokov rutschte leise vom Barhocker, überließ sein halbgeleertes Glas sich selbst, duckte sich unter die kreisenden Fäuste, die schwingenden Prügel, die grölenden Schimpfkanonaden. Den Kopf auf Bauchnabelniveau schaufelte er mit ausgestreckten Armen die verknäulten Arme, Beine, Leiber auseinander. Und war der Korridor, den er schuf, auch nur schmal und von extrem kurzer Dauer, so gelang es ihm doch, bis zur Tür zu kommen – fast.
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