Doch alles – das Spiel der Erkerfenster, die geschlossenen Reihen der ledernen Bücher, der goldbrokatbezogene Schreibtischstuhl, das Hochheiligste des Vaters –, all das war es nicht, was Vladimirs Blicke magisch anzog, magnetisch auf einen Punkt bündelte, fixierte. – Salewski!
Salewski, der eben etwas in der Tasche seiner Livree-Weste verschwinden ließ, kurz, scheints irgendwie von irgendwem aus dem Konzept gebracht, schnelle Blicke nach rechts, nach links warf, dann die Tür des kleinen, tabernakelgleichen Wandtresors wieder schloss und den Schlüssel dreimal im Schloss kreisen ließ. Bevor er ihn schließlich wieder dem Versteck unterm doppelten Boden der untersten Schreibtischschublade anvertraute. Doch das sah Vladimir schon nicht mehr. Hatte sich – Kunst des Schleichens, ohne drüber nachzudenken – davongestohlen. Vollkommen aufgewühlt, nicht nur der Magen. Aber hartnäckig schweigend. Allenfalls mit Annabelle und Daschjenka ließ sich über dieses Ereignis reden.
6.
Wyra, 50 Werst südlich von St. Petersburg.
Landsitz der Nabokovs.
Sommer 1911.
Die alte Kiefer unten am Seeufer. Musste vor Jahrzehnten ihre Wurzeln in die Felsritze gebohrt haben. Anfangs nur ein vorsichtiges Abtasten, ein zufälliges Fingern, ein winziges Ausschlagen der Wünschelruten auf der Suche nach frischen Bodensäften. Dann das Verankern der haarfeinen Wurzeln, die in die Tiefe des Felsens wuchsen. Weiter wuchsen. Und mit jedem Millimeter, den sie ins Gestein vordrangen, wurden weiter oben aus den winzigen Kapillarwurzeln Finger, wurden Daumen, wurden Oberarme. Mit ungeheuren Bizepskräften. Drängend, pressend. Und ächzend antwortete der Fels. Wohlwissend, wer hier als Sieger vom Platz gehen würde. Trotzdem kämpfte er, hielt dagegen. Bis er dann irgendwann doch ermüdete. Der Riss vertiefte sich, weitere hauchdünne Wurzeln fassten sofort nach, saugten die Säfte aus dem Fels. Wodurch oben die Oberarme noch mehr anschwollen. Der Fels hielt stand. Noch. Bot Halt. Noch. Selbst wenn sich die Kiefer unter der Knute Boreas’, des eiskalten, brettharten Nordsturms, bog und beugte.
Jetzt im Juli hatten sich am Fuß des Baums Preiselbeersträucher emporgezweigt, blühten und verblühten, wechselten sich ab mit Blaubeer- und Trunkelbeersträuchern, spotteten über die beerenlosen Wollgrasbüschel, die aus der Felsritze ans Licht kümmerten. Unten im wurzelaufgepressten Granitklotz waren Regen und Laub zu einer braunen Brühe verschmolzen, die auch dieser Handvoll zerzauster Wollgrashalme als Lebensborn diente. Und Scharen bunter Schmetterlinge anlockte, die mit ausgebreiteten Flügeln die Farbenpracht der Sommerblüten in den Schatten stellten.
Senator Nabokov und sein zwölfjähriger Sohn hasteten zwischen Kiefern und Seeufer hin und her, sprangen, den Käscher in der angewinkelten Rechten, von Moospelz zu Moospelz, von Grasbüschel zu Felsbuckel zu Wurzelknorz. Bis sich Vater Nabokov völlig außer Atem seinem Sohn in den Weg stellte und ihn mit strahlenden Augen ansah. Nabokov junior machte ein grimmiges Gesicht und versuchte, an seinem Vater vorbeizukommen und die Jagd fortzusetzen. Der Senator jedoch stand zwischen zwei Bäumen, wodurch die Spannweite seiner ausgestreckten Arme noch erheblich vergrößert wurde. Stand dort und schlug nach Pfauenart das vitruvianische Rad. Zur Vollendung der feierlichen Popen-Pose fehlte nur noch das unter den ausgestreckten Armen wallende Messgewand. Er atmete tief ein und holte zu einer seiner, dem kleinen Vladimir wohlbekannten Predigten aus. Ohne allerdings abzuwarten, bis sich sein von der wilden Jagd abgehetzter Atem wieder einigermaßen beruhigt hatte. Untermalt von pfeifendem Hecheln und von Lachanfällen geschüttelt, posaunte er in die Welt hinaus: »Hiermit halten wir in aller Feierlichkeit für die Nachwelt fest, dass Vladimir Vladimirowitsch Nabokov und sein Vater Senator Vladimir Dmitrijewitsch Nabokov, heimgesucht von entzückenden Verzückungen über jede verrirrte Schönheit, die sie bei sonntäglichen entomologischen Erkundungszügen auf Wyras taunassen Schmetterlingsweiden anlocken konnten, und über jedes taumelnde Juwel, das sie von hinnen segeln sahen, dass die Herren Nabokov junior und senior hier an diesem geweihten Ort ihren Odem vor lauter Glück aushauchten. Unter Hügeln von Fliederblüten. Flankiert von einem flatternden …«
»Papa, der Käscher ist kein Weihrauchfass! Und der Wurzelstock keine Predigtkanzel.«
Geschüttelt von einer wüsten Lachsalve hobelte der Senator über den Einwand seines Sohnes hinweg und setzte noch mal an: »Flankiert von einem flatternden Spalier aus Kohlweißlingen und Golddickköpfchen. Und nächtens überschattet von Schwalbenschwanzschwärmen, von Perlmutter- und Satyrnymphchen, von Moorbunt- und Höckereulen, und was der im Mondlicht schillernden Nachtfalter mehr sein mögen. – Gott selbst möge sich der beiden Herren …«
Jetzt aber erhob der kleine Nabokov noch mal seine Stimme und schrillte dazwischen: »Wenn du so laut redest – du vertreibst sie ja! Sieh dir das an! Weidenbohrer und Grüner Birkenspanner, Kopf an Kopf! Traumschön.«
Der Senator grinste seinen vom Jagdfieber vollkommen elektrisierten Sohn an, klatschte plötzlich donnernd in die Hände und fuchtelte – die edle Haltung des vitruvianischen Menschen völlig missachtend – mit allen zur Verfügung stehenden Extremitäten durch die Luft. Sofort erhoben sich ganze Geschwader von Schmetterlingen und taumelten eilends davon ins Dunkel des Kiefernwaldes. Vladimir traten die Tränen vor Wut und Enttäuschung in die Augen, und, um nicht losheulen zu müssen, stieß er »Warum machst du das?« hervor.
»Es gibt Falter, mein Sohn, die muss man fliegen lassen. Um ihre Schönheit zu retten«, grinste der Vater.
»Aber ich wollte sie doch gar nicht fangen. – Nun sag schon! Du hast sie vertrieben, damit ich sie nicht angucken kann … du bist gemein … Warum gönnst du mir diesen wunderbaren Anblick nicht!?«
Vater Nabokov schüttelte sich vor Lachen. Schüttelte sich vor Lachen.
7.
Montreux, Dachsuite des Palace-Hotels.
Mitte Januar 1991.
Ein paar Tage waren ins Land, in den See gegangen. Sie hatte sich, ohne recht zu wissen, wieso eigentlich, wieder einigermaßen beruhigt. Vielleicht, dachte sie, vielleicht ist es tatsächlich so, dass man im Alter ähnlich schnell vergisst wie als Kleinkind. Bewundernswert, wie die kleinsten Zwerge, zack, umschalten von tieftraurigtränenreicher Bestürzung in glockenhelles Lachen. Und umgekehrt. Praktisch willenlos. Ausgeliefert ihren momentanen Eingebungen. Sie nickte, lächelte. Blickte auf den See hinaus.
Heute ein wüstes Treiben dort draußen. Der Wind, der von den Bergen kalt herunterschlug, heizte den Wellen ordentlich ein und verwandelte den ansonsten wochenlang spiegelglatten See in ein schäumendes, schwarz-weißes Inferno aus sich überschlagenden Wogen, die auf die drüben am Steg vertäuten Jollen und Yachten eindroschen, die man versäumt hatte, für den Winterschlaf aus dem Wasser zu hieven. Der grimmig kalte Wind ließ die Takelage an den Masten rasselnde Trommelwirbel veranstalten, zupfte und zerrte an den Antennenkabel-Harfen, spielte den Schneepeitschen, die sich über die leergefegte Hotelterrasse und die seitlich aufgestapelten Sonnenstühle hermachten, zum Tanz auf. Entfachte selbst in den flachen Pfützen des Yachthafenplatzes eine klatschende Brandung. Konnte ihr hier oben nichts anhaben. Unterm Dach des mondänen Hotels. In ihrem sicheren Krähennest, von wo sie den entfesselten Gewalten beim weißen Höllentanz zusehn konnte, ohne fürchten zu müssen –
Plötzlich wusste sie, sie war wieder da.
Stand hinter ihr. Regungslos.
In der Mitte des Zimmers.
War wieder auf unerfindlichen Wegen hineingeschlüpft.
Sagte nichts.
War aber da.
Um die gespenstische Stille zum Verstummen zu bringen, ergriff diesmal Véra selbst die Initiative und schwadronierte, ohne den Blick vom Schnee- und Seespektakel abzuwenden, auf das Phantom in ihrem Rücken ein: »Wenn Sie jetzt mal so langsam die Freundlichkeit hätten, mir zu sagen, was Sie eigentlich von mir wollen, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Gesetzt den Fall, Sie sind heute wieder ein bisschen gesprächiger als bei Ihrem letzten Auftritt.«
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