Auf dem Weg zum Arzt komme ich beim türkischen Süpermarket Bolu vorbei, wo es Helâl et Pazari gibt. Die Obstauslage nimmt die Hälfte des Bürgersteigs ein. An einem Baum direkt daneben steht ein etwa fünfjähriger Junge und pinkelt. In zweiter Reihe parkt eine fette schwarze und glänzende Mercedes-Limousine. Die Beifahrertür steht offen. Hinter dem Steuer spricht ein dicker Türke auf Türkisch ins Handy. Auf der Rückbank sitzt eine Frau, die in einem Pelzmantel mit hochgestelltem Pelzkragen steckt. Der Junge zieht den Reißverschluss hoch und klettert auf den Beifahrersitz.
Beim Arzt sitze ich neben einem alten unrasierten Mann mit Gehhilfe. Sein Sohn bringt ihm Kaffee: »Hab ick von Kaiser’s jeholt. Die ham auch ne Bockwurst. Willste eene?« Der alte Mann will keine. Aber Kaffee schon. »Schmeckt jut, der Kaffee«, sagt er. »Ja«, sagt sein Sohn wieder, »is von Kaiser’s, aber kipp ihn nicht aus.« »Nene, mach dir mal keene Sorgen«, sagt der Alte. »Schmeckt echt jut, der Kaffee«, sind seine letzten Worte, dann kippt er um. Der Mann. Der Kaffee aber auch.
Nach Camus muss man sich diesen Mann als glücklich vorstellen. Er hat, glaube ich, in seinem Leben genug Felsbrocken vergeblich den Berg hochgerollt. Und der Kaffee hat ihm auch geschmeckt, obwohl das für Kaiser’s jetzt keine gute Werbung war.
Da geht man morgens trantütig zum Bäcker, um Mr. Fup ein Schokoladencroissant zu kaufen, auf das er zum Frühstück besteht, und schon muss man kurze Zeit später im Zeit-Magazin lesen, dass man irgendwen nicht gegrüßt hat.
Der Irgendwer heißt Harald Martenstein, dem im Zeit-Magazin eine Kolumne eingeräumt wurde, um sich über solche Dinge beschweren zu können, wie dass er nicht gegrüßt worden ist, und das schon früh beim Bäcker. Dabei kann ich mich gar nicht erinnern, dass ich ihn nicht gegrüßt habe. Aber es tut mir natürlich leid, denn wenn ich gewusst hätte, wieviel Harald Martenstein daran liegt, von mir beim Bäcker gegrüßt zu werden, wäre ich natürlich ganz anders durch die Welt gelaufen, immer mindestens mit einem Auge die Gegend abscannend, ob Harald Martenstein gerade irgendwo herumläuft.
Ich hätte das gemacht, ehrlich, obwohl das gar nicht so einfach ist, denn Harald Martenstein gehört eher zu den unauffälligen Menschen im Viertel, die man ziemlich leicht übersehen kann. Das ist jetzt nicht persönlich gemeint. Er trägt beispielsweise keinen rosafarbenen Anorak und auch keine Schuhe in Pink. Das würde mir auffallen.
Manchmal sehe ich ihn vor meinem Fenster vorbeilaufen, und da hat er meistens irgendwas Graues an oder Beiges, was Rentner gerne tragen, und eine Aktentasche, in der er wahrscheinlich sein Pausenbrot hat. Aber das weiß ich natürlich nicht genau. Und bis ich dann, wenn er bei mir vorbeiläuft, das Doppelfenster aufgemacht habe, ist er auch schon wieder weg, und irgendwie wäre es schon komisch, wenn ich ihm dann hinterherriefe: »Hallo Harald! Hallooo!«
Das wär vielleicht schon ein wenig aufdringlich, und wenn er sich dann fragend umdrehte, weil jemand »Harald« gerufen hat, und womöglich denkt, es wär was Wichtiges, dann wäre es vielleicht ein wenig dürftig, wenn ich ihm nur sagen könnte: »Schönen Tag auch noch«, weil was anderes würde mir nicht einfallen, weil ich jetzt nicht was wirklich Wichtiges mit ihm zu besprechen gehabt hätte.
Obwohl, jetzt vielleicht schon. Ich meine, jetzt, wo er sich im Zeit-Magazin darüber beschwert, dass ich ihn nicht gegrüßt habe. Harald Martenstein schreibt nämlich, ich sei ein »Kapitalismuskritiker« und er nicht. Ich bin fast ein wenig gerührt. Das hat nämlich noch nie jemand zu mir gesagt, aber ich finde es schön, dass es endlich mal jemand anspricht. Es stimmt nämlich. Ich habe tatsächlich einiges am Kapitalismus auszusetzen, zum Beispiel Grußzwang frühmorgens beim Bäcker. Nein, das ist jetzt natürlich Quatsch. Aber trotzdem, der Kapitalismus ist schon ziemlich Scheiße, auch wenn man es hier im »Graefekiez« nicht so mitbekommt.
Außerdem schreibt Harald Martenstein, dass ich unter »einer ähnlichen Krankheit leide, wie sie auch Josef Stalin gehabt hat«. Huch, denke ich, und gucke natürlich gleich bei Wikipedia nach, an welcher Krankheit Stalin gelitten hat. Schlaganfall, sagen die einen, er sei vergiftet worden, sagen andere. Ich bin jetzt kein Stalin-Spezialist, und vielleicht hatte er ja noch eine andere Krankheit, aber Schlaganfall hatte ich noch nicht, und vergiftet worden bin ich meines Wissens auch noch nicht. Ich glaube, das hätte ich gemerkt. Aber ich werde das im Auge behalten.
Harald Martenstein schreibt dann noch, dass, wenn ich als Kapitalismuskritiker den Kapitalismus abgeschafft und den Sozialismus eingeführt hätte, er Angst hätte, ich würde ihm dann »irgendwie wehtun«, weil er kein Kapitalismuskritiker ist. Wie er darauf kommt, ist mir noch schleierhafter als Stalins Krankheit, an der ich angeblich leide. Ich glaube aber, wenn tatsächlich so ein unwahrscheinlicher Fall einträte wie Sozialismus in Deutschland, dann wäre ich der Erste, der abtauchen würde, denn schließlich kritisiere ich nicht den Kapitalismus, damit Sozialismus herauskommt, außerdem stand nur eine Woche vorher in der Zeit, dass ich »Anarchist« sei, und denen geht Sozialismus ja wohl total am Arsch vorbei.
Wie auch immer. Ich schätze mal, am ersten Tag des Sozialismus gäbe es sehr viel zu tun. Harald Martenstein weh zu tun, gehört da, glaube ich, nicht dazu. Kann ich mir nicht vorstellen, nicht mal, wenn Harald Martenstein sein Hemd aufreißt und mit nackter Brust durch die Straßen läuft und die Sozialisten auffordert, ihn zu erschießen, weil er den Kapitalismus gut findet.
Die Wagenknecht würde höchstens sagen: »Ach, der Martenstein schon wieder, schreib lieber wieder eine Kolumne darüber, dass dich beim Bäcker irgendwer nicht gegrüßt hat.« Die Sozialisten würden ihn glatt ignorieren, und die Kommunisten auch. Aber wahrscheinlich wäre es genau das, was ihm wehtun würde. Na, dann hab ich ja hiermit meine Therapeutenpflicht erfüllt. Bitte schön. Ich hab das gerne gemacht.
Danke? Da nicht für.
Ich suche die Hasenheide Nr. 69, aber nicht aus Gründen, die diese Nummer nahelegt (ich meine jetzt in sexueller Hinsicht, falls jemand auf der Leitung stehen sollte, was mir ja ständig passiert), sondern um zu gucken, ob sich hinter dieser Adresse immer noch die Dicke-Pizzateig-Pizzeria von früher verbirgt.
Vor der Tür begrüßt mich Dr. Seltsam. Er hat einen schwarzen Frack an, dazugehörige schwarze Hosen, ein weißes Hemd und eine rote Fliege, die leicht Schlagseite hat. Er hat heute seine nach ihm selbst benannte Wochenshow, und ich bin sein »Hauptact«, wie ich von ihm erfahre.
Zum Glück habe ich mein Buch dabei, aus dem ich was vorlesen kann. Vorher aber erzählt Dr. Seltsam eine kleine Reminiszenz an den vor kurzem verstorbenen Franz Josef Degenhardt. Gut, dass Franz Josef Degenhardt die nicht mehr hören kann. Nach einem Konzert nämlich, als der große und noch sehr junge Fan Dr. Seltsam in Degenhardts Garderobe vorgedrungen war, fragte Degenhardt nicht ihn, seinen Fan, sondern einen »üblen Halunken« von der Plattenfirma: »Und? Wie bin ich gewesen?« Das war der erste große Knacks in der Beziehung zwischen Dr. Seltsam und Franz Josef Degenhardt.
Danach kommt ein sehr expressiv vorgetragenes und vertontes, aber sich nicht reimendes Gedicht von Brecht, das ich nicht verstehe, mich aber sehr beeindruckt. Und danach wiederum kommt der »Hauptact«, also ich. Dr. Seltsam sagt, ich würde schreiben wie Franz Hessel, dessen Sohn Stéphane Hessel ja auch ein Buch mit dem Titel »Empört Euch!« geschrieben habe, und das wäre ja auch mal wieder nötig gewesen.
Ich sage, dass sein Vergleich mit Franz Hessel einen Haken hätte, und zwar den, dass ich jetzt Franz Hessel lesen müsste. Aber das ist gar nicht nötig, denn Dr. Seltsam klärt mich in der restlichen Zeit bis zur Pause auf, wie Franz Hessel hier durch die Gegend flaniert sei, immer wachsamen Auges, und dabei solche Dinge wie ein Einhorn auf der Kirche am Südstern entdeckt habe, und wenn man ein Einhorn sähe, wäre man ein glücklicher Mensch.
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