Diesmal war ich an eine sehr korpulente schwarze Lady geraten. Das hatte ich immer vermieden bisher, ich kannte genug schwarze Rassisten, die mir kleinem White Boy das Leben schwer machen wollten. Also Miss Officer machte keinerlei Anstalten, mir das Leben leicht zu machen, die Einreise. Irgendwann wurde’s mir zu bunt und ich sagte ganz cool: »By the way, Ma’m, I used to sing Gospels in East German churches.«
Pause, sie kuckte mich an, und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht: »Oh really?« Sie knallte mir den ersehnten Stempel aufs Papier, gab mir meinen Pass zurück und sagte strahlend: »Have a nice time in America.«
Thank you Mahalia.
Irgendwo an der Ostsee, 8. November 2007
Orpheus steigt herab und rein in den Hootenannyklub von Ostberlin
Ich war ihnen geradezu in die Arme gelaufen. Ich war für sie genauso der Jackpot, wie sie für mich. Möglicherweise wären sie auch ohne mich ausgekommen; für mich jedenfalls war’s der Sechser im Lotto; von dem Tag an war mein Leben nicht mehr dasselbe; es war besser. Sehr viel besser.
Irgendwann am Ende der Steinzeit, im Frühsommer 1965 hatte ich den festen Vorsatz, mein sicheres Leben aufzugeben. Ich wollte raus. Raus aus der Geborgenheit des Theaters der kleinen Städte. Meine Perspektive war, nach dem Engagement am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/Zittau, meinem ersten gleich nach der Schauspielschule, nach Rudolstadt zu gehen, von dort nach Meiningen, dann nach Karl-Marx-Stadt, um nach vielen Jahren – vielleicht - irgendwann im Mekka der Theaterkunst anzukommen: In Berlin, der Hauptstadt der DDR.
Aber es gab eine Abkürzung. Ich hörte, das Fernsehen hätte ein Ensemble; ich meldete mich zum Vorsprechen an, neudeutsch Casting und trampte nach Berlin. Ich hatte von einem Stück gehört, das in Rostock lief. Es spielte in den Südstaaten Amerikas, und ein Bluessänger namens Val Xavier war die Hauptfigur: Tennessee Williams’ »Orpheus steigt herab«. Ich war elektrisiert; der Blues, das war seit langem meine Musik. Ich hatte mir blaue Gitarren-Licks aus den Fingern gesaugt, ich lernte von Westplatten, an die man schwer rankam, aber man kriegte sie. Das war die ideale Rolle fürs Casting in Adlershof, dem Sitz des Fernsehfunks der DDR. Da könnte ich ganz legitim die Schauspielerei mit der Musik verbinden und denen zeigen, dass ich auch singen kann. Und Gitarre spielen. Ein guter Plan.
Ich kam, sah und spielte meine Szene aus dem Stück, streichelte und peinigte die Saiten meiner Gitarre, intonierte die Blue Notes, wie ich sie von Ray Charles und Jimmy Witherspoon gelernt hatte, von Snooks Eaglin und Joe Turner, Sonny Terry und Brownie McGhee, von allen meinen schwarzen Helden der schwarzen Rillen im Vinyl; der Blues und ich waren eins.
Hubert Hölzke, Regisseur und offenbar der Chef der Kommission sah mich an und schwieg. Dann kamen die Worte, die ich mein Leben lang nicht wieder vergessen sollte: »Sie schickt uns der Himmel.«
Ich verstand nichts.
»Wir suchen seit Monaten einen Mann, der Blues singen und Gitarre spielen kann. Der beides ist, Schauspieler und Sänger. Wir haben ihn gerade gefunden.«
»Was haben Sie vor?« fragte ich noch immer ahnungslos.
»Wir wollen »Orpheus steigt herab» fürs Fernsehen machen, aber wir hatten bis vor fünf Minuten keinen Val Xavier. Haben Sie Zeit im August, September?«
Ich fiel aus allen Wolken. »Ja,« sagte ich, wie aus der Pistole geschossen. »Aber ja.«
Ich hatte natürlich keine Zeit, ich war verdammt noch mal unter Vertrag, ich musste im August auf der Freilichtbühne mindestens drei Rollen spielen, wie sollte ich das hinkriegen!?
»Ihre Partnerin wird Gisela May sein.«
Das wird ja immer besser: Gisela May! Ich musste das machen, ich musste raus aus meinem Theatervertrag. Ich sagte zu allem Ja und Amen, was mir der Regisseur sagte und fuhr verwirrt nach Zittau zurück. Mit der Bahn, das leistete ich mir jetzt.
Und ich werde es den Zittauern nie vergessen, sie ließen mich raus, sie verbauten mir nichts. Nur noch ein paar Vorstellungen Open Air, dann Adios und ab in die große weite Welt. Nach Ostberlin.
Aber erst mal machte ich eine gründliche Recherche. Als diplomierter Absolvent des Schauspielstudios des Deutschen Nationaltheaters zu Weimar hatte ich ja gelernt, wie man sich auf eine Rolle vorbereitet. Da galt’s erst mal den Überbau, den Unterbau, den historischen Hintergrund, die gesellschaftlichen Verhältnisse, das Wo und Wohin, das Warum und Woher zu sichten, zu klären; das ganze kopflastige Gebäude, um eine Rolle zu erarbeiten; ergo, bevor man die erste Zeile Text lernte, musste erst mal die Dramaturgie klar sein. Es dauerte Jahre, bis ich mich von dieser Kopflastigkeit befreit und den Beruf in die richtigen Proportionen gebracht habe, um dann aus dem Bauch raus zu spielen. Und nicht immer alles intellektuell zu hinterfragen. Eigentlich hab ich mich erst mit »Hair« freigeschwommen und begriffen, was Acting heißt. Nämlich eine bestimmte Figur in einer bestimmten Situation glaubhaft rüberzubringen. That’s it. Mehr ist es nicht. Simpel. Für »Acting« gibt’s ja noch nicht mal ein adäquates deutsches Wort. Schau-spielen triffts nur halb. Bei »Schauspielern« dreht sich mir immer der Magen rum. Das klingt nach Laienspiel und Muff.
Zurück in die Vergangenheit, noch war ich in Zittau. Und fuhr nach Leipzig. Wieder mit der Bahn; Trampen war für die Mittellosen, ich war ja bald reich. Also ich reiste nach Leipzig zur Deutschen Bücherei. Ein ganz erstaunliches Institut; die haben alles gesammelt, was je in deutschen Landen in der Muttersprache gedruckt ward. Mit meinem Textbuch von »Orpheus steigt herab« erschien ich an der Pforte und wollte alles lesen, was es über Tennessee Williams und sein Werk zu lesen gab. Ich hätte genauso gut nach den geheimen Unterlagen der Freimaurer fragen können, das wäre nicht schwieriger gewesen. Was ich wollte, lag nicht einfach offen rum, für jedermann einsehbar. No way, José; was ich lesen wollte, lag im Giftschrank. Ein Bibliothekar schritt vor mir her, schloss Türen auf und hinter uns wieder zu, bis wir zum Allerheiligsten kamen. Dann wurden Mappen mit Zeitungen vor mir aufgehäuft, die zu lesen einer Sondergenehmigung bedurften. West-Zeitungen. Gift.
Ich las und lernte, machte mir Notizen und verließ nach ein paar Stunden das Haus auf demselben komplizierten Weg.
Dann begannen endlich die Proben in Berlin, und ich war in dem Himmel, aus dem ich geschickt worden war. Ich kriegte einen Vorschuss, holte mir von der Bank ein Bündel Zehnmarkscheine und steckte sie in die Brusttasche meines Hemdes, die ich jederzeit wieder auffüllen konnte. Symbol meiner neuen Unabhängigkeit.
Ich war frei. Ich war an keinen langfristigen Vertrag gebunden, ich konnte alles machen, was ich wollte. Ich hätte als Müllmann arbeiten können, wenn mir der Sinn danach stand; zum ersten Mal in meinem jungen Leben war ich wirklich frei. So empfand ich das.
Gisela May holte mich immer mit ihrem Westwagen ab, einem mörder Ford Taunus. Für mich als Trabbikind, für das ein Wartburg schon das Non Plus Ultra war, war das wie ein Rolls Royce. Wir alberten rum, fielen in den Kurven verkehrsgefährdend aufeinander; es waren fröhliche Wochen. Wir hatten, wie am Theater, ein paar Wochen lang Proben. Dann gab’s erst mal eine vierwöchige Pause, weil La May eine Tournee im »kapitalistischen Ausland« hatte (was war die DDR-Terminologie doch verschroben). Ich fuhr ins Zittauer Gebirge zurück und spielte auf der Freilichtbühne in Oybin.
In einer Nachmittagsvorstellung auf den Felsen im unwegsamen Gelände passierte’s dann. Ich knickte um, KRRRXXX und landete im Krankenhaus. Ich hatte mir das Bein gebrochen. Zwei Wochen bevor ich wieder in Berlin sein sollte. Eine Woche lag ich mit dem Bein im Gips in der Klinik und war am Boden zerstört.
Aber der Schutzheilige der Mimen ließ mich nicht im Stich, das neue Röntgenbild zeigte nur eine leichte Fissur, nicht wirklich einen Bruch. Da hatte die Ärztin wohl ihre Brille nicht auf bei der Diagnose. Ich durfte gehen, ich konnte gehen, am Stock noch, aber ich konnte. Halleluja!
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