»Na, siehst du. Freu dich doch darauf, der Zukunft etwas Positives abzugewinnen. Ein gemeinsames Leben eröffnet einen völlig neuen Abschnitt im Leben. Das mag abgedroschen und altmodisch klingen, aber es ist so. Jeder sollte einmal die Chance geboten bekommen, sich wegen einer nicht richtig verschraubten Tube Zahnpasta in die Haare zu kriegen. Ich hab mir sagen lassen, getrennte Badezimmer wären auf Dauer ebenso gut für die Haltbarkeit einer Beziehung wie getrennte Schlafzimmer wegen Schnarchens.«
»Sie sind ja ein richtiger Experte, was Zweisamkeit angeht«, frotzelte Annalena. Immerhin schien sich ihre innere Anspannung etwas gelöst zu haben. Ihr Lächeln erreichte sogar die Augen. »Sicher haben Sie recht und ich sollte mich von dem Umzug nicht stressen lassen. Lukas hilft mir ja auch dabei. Außerdem lassen wir ein Umzugsunternehmen für uns schleppen. Ach, letztlich ist das Problem nur in meinem Kopf. So perfektionistisch, wie ich arbeite, bin ich auch privat, und in einem Leben zu zweit kann man nicht mehr alles zu hundert Prozent planen, sondern nur noch zu fünfzig.«
Und mit Kindern gar nicht mehr, wollte Lorenz gerade erwidern, verkniff sich den Einwurf aber im letzten Moment. Annalenas Selbsteinschätzung bedurfte keines Kommentars. Außerdem ging ihn ihr Privatleben nichts an, er respektierte sie als zuverlässige, intelligente und akribische Kollegin. Aber wenn man zu perfektionistisch war, stand man sich damit gelegentlich selbst im Weg. Auch diese Einsicht stammte aus Roswitha Grimms Weisheitensammlung und Lorenz wusste sie vor allem auf sich selbst anzuwenden.
»Du schaffst das schon alles«, ermutigte er sie. »Und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch mehr Lust auf meine Arbeit als auf die Kur. Aber mit meinem Rücken kann es einfach nicht so weitergehen.« Er glaubte selbst nicht, dass er das sagte, seine ursprüngliche Meinung hatte anders ausgesehen. »Und ich hätte diesem Theater auch nicht zugestimmt, wenn ich für die Kur durchs halbe Land hätte reisen müssen. Aber wie du weißt, bin ich gar nicht weit weg, nur in Wiesenbad.«
Der Kurort Thermalbad Wiesenbad war, wie der Name erahnen ließ, für seine Therme bekannt. Die Kurklinik dort erschien Lorenz perfekt, weil sie nur sieben Kilometer von seinem Wohnort Annaberg-Buchholz entfernt war. Somit konnte kein Heimweh aufkommen. Der dazugehörige Kurpark war ihm von gelegentlichen Spaziergängen mit Roswitha bereits vertraut, das Kneippbecken und die Klanginsel würden ihn an schöne Stunden mit ihr erinnern. Es hätte sogar die Möglichkeit gegeben, Abend für Abend nach Hause zu fahren, aber Roswitha hatte ihm des ungestörten Erholungseffektes wegen davon abgeraten. Sie war der Meinung, dass der Hauptkommissar sich nur dann wirklich entspannen könnte, wenn Diensttelefon und Dienstplan zu hundert Prozent außer Reichweite waren. Sie mochte recht haben.
»Es beruhigt mich zu wissen, wo ich Sie finden könnte«, gab Annalena Krest zu. »Natürlich würde ich Sie niemals stören, nicht mal im Notfall, aber der Gedanke beruhigt mich eben.«
Auch dieses Geständnis erstaunte Lorenz sehr. Bisher hatte sich die junge Frau in ihrem gemeinsamen Dienstalltag bissig und selbständig dargestellt.
»Es wird aber keinen Notfall geben«, versicherte er ihr. »Und selbst wenn, du bekommst das hin. Immerhin konntest du jetzt schon ein Weilchen von mir lernen«, er zwinkerte ihr zu.
Sie lächelte ergeben und meinte dann:
»Es sind ja auch nur drei Wochen. Und wetten wir, dass ich bald mehr über Ehrenfriedersdorf wissen werde als Sie?« Sie spielte damit auf Lorenz’ Leidenschaft für Heimatkundliches an.
»Das werden wir ja sehen. Interessant ist Ehrenfriedersdorf allemal, das kann ich dir jetzt schon versprechen. Und da meine ich nicht nur die Geschichte von der längsten Schicht im Saubergstollen, die ohnehin jeder kennt!«
Glaubte man dieser Sage, so war am 25. November 1508 ein junger Bergmann verschüttet worden, dessen Leiche man beinahe auf den Tag genau sechzig Jahre später barg, angeblich ganz ohne Verwesungsspuren. Eine mystische Heimatgeschichte ganz nach Lorenz’ Geschmack. Was das Erzgebirge und seine Geschichten und Bräuche anging, war er höchst informiert und interessiert, was nicht zuletzt seiner Tätigkeit für den Heimatverein geschuldet war, die ihn über die schwere Zeit nach Claras Tod hinweggetragen hatte.
»Du wirst deinen Umzug schon nicht bereuen. Ländlich lebt es sich einfach ein bisschen entspannter als in der Stadt – so sehe ich das. Und für mich funktioniert der Job auch nur so, ich muss am Abend genügend Abstand zwischen mich und das Revier bringen können«, gab Lorenz zu.
»Und das sagt mir jemand, der seine ungelösten Fälle am liebsten übers Wochenende mit nach Hause nehmen würde«, prustete Annalena mit gespielter Empörung.
»Was sich gelegentlich auch gelohnt hat«, erwiderte der Hauptkommissar im Brustton der Überzeugung. »Immerhin konnte ich so die Akte Karina Baumann endlich schließen – nach sechzehn Jahren, wie du weißt.«
Die Kommissaranwärterin nickte. Sie erinnerte sich an Lorenz’ Bemühungen im Fall einer Dreizehnjährigen, die nahe dem Thalheimer Christelgrund verschwunden war. Die Sache hatte ihm keine Ruhe gelassen, bis es ihm endlich, nach so vielen Jahren, gelungen war, dazu beizutragen, dass ihre Gebeine doch noch die letzte Ruhe auf dem Stollberger Friedhof fanden.
»Ja, das stimmt natürlich. Sicherlich werden Sie genauso beharrlich dafür sorgen, dass mir nichts, was ich über meine neue Wahlheimat wissen muss, entgeht.«
Kurz resümierte Lorenz in Gedanken, was er über Ehrenfriedersdorf erzählen könnte, wenn man ihn vorn in einen Reisebus setzen und ihm ein Mikro in die Hand drücken würde. Eine ganze Menge. Dann legte er gegenüber seiner Mitarbeiterin los: Für Spaziergänge und Wanderungen standen der Saubergwald und der Wald bei den Greifensteinen zur Verfügung. Natürlich war auch der Bergbau prägend für den Ort gewesen, schon um 1240 soll im Seifenthal Zinn aus den Steinen gewaschen worden sein, das kleine Bächlein plätscherte bis heute. Dort, wo heute die Hormersdorfer Jugendherberge steht, befand sich früher ein Arsenikwerk, im Volksmund »Gifthütte« genannt. Während des Zweiten Weltkriegs mussten Zwangsarbeiter nicht nur dort, sondern auch bei der Dammerhöhung des Greifenbachstauweihers schuften. Seit 1968 war der Geyrische Teich ein beliebtes Naherholungsgebiet, seinen Ursprung hatte er als einer der ältesten Stauseen im Erzgebirge bereits vor sechshundert Jahren, als er als Wasserspeicher für den Bergbau angelegt worden war. Er speiste den Greifenbach, der dann in den Röhrengraben abgeleitet wurde, und den der in landesherrlichen Diensten stehende Hieronymus Lotter laut einer legendären Erzählung nach Geyer umleiten ließ, so dass die Ehrenfriedersdorfer, die sich selbst oft kurz »Ehrendorfer« nannten, kein Wasser für den Bergbau mehr hatten, wodurch bis in die Gegenwart eine gewisse Diskrepanz zwischen beiden Orten zu herrschen schien. Der Röhrengraben führt direkt zum Sauberg, an seinem Verlauf finden sich bis heute alte Stollen und bergmännische Ruinen. Auf halbem Weg kommt man beim »Jahn Kasper« vorbei, der selbst Bergmann im Sauberg war und den Spitznamen von seinen Kollegen erhielt – jetzt konnte man sich bei ihm einen Imbiss gönnen. Wer in der Vergangenheit genug kriminelle Energie in sich getragen hatte, um darüber nachzudenken, wen er gern hätte verschwinden lassen, dem dürfte die Ehrendorfer Binge in die Hände gespielt haben, ein »großes Loch« unterhalb der Greifensteine, circa fünfundzwanzig Meter tief und teilweise mit Wasser gefüllt, das bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nur unzureichend oder gar nicht abgesperrt gewesen war. Natürlich hat es seine Opfer gefordert … Die Greifensteine selbst waren eine Felsformation im Geyerschen Wald zwischen den Orten Thum, Jahnsbach, Geyer und Ehrenfriedersdorf und beherbergten eine aus einem Granitsteinbruch entstandene Naturbühne für Theateraufführungen, Kinovorstellungen und Konzerte. Von Ehrenfriedersdorf aus konnte man sie über den Albin-Langer-Weg, den Triftweg oder de Ruschelbaa erreichen, mitten durch den Wald sollte man besser nicht gehen, wenn man sich nicht auskannte, und das war nicht nur Lorenz’ Meinung in seiner Eigenschaft als Ermittler. Für Waldspaziergänge eignete sich eher der Waldgeisterweg, ein Rundwanderweg, der vor allem für Kinder ein Abenteuer ist und für den Schnitzer aus der Umgebung jährlich einen neuen Waldgeist aus Baumstämmen erschufen. Lorenz erinnerte sich, dass dort unlängst Kollegen wegen Vandalismus ermitteln mussten, weil nicht einmal Waldgeister vor mutwilliger Zerstörung sicher waren.
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