»Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Lothar Brunner.« Der andere streckte seine Hand über den Tisch.
Richard musterte den Fremden eingehend, im fadenscheinigen Licht des Gastraumes wirkten dessen Züge weich und angenehm. Dunkles, leicht gewelltes Haar umrahmte ein Gesicht, in dem nichts Markantes hervorstach, ein Antlitz, das Richard am nächsten Morgen wieder vergessen haben würde. Er schätzte Brunner eine Dekade älter als sich selbst und der Dialekt, den der Mann sprach, klang in seinen Ohren sehr vertraut. Brunner war demnach kein waschechter Erzgebirger, am Ende stammte er vielleicht ebenfalls aus der Lausitz?
»Sicher fragen Sie sich längst, was das alles soll und was ich von Ihnen will?«
Richard griff achselzuckend nach seinem Glas. In erster Linie genoss er es, sich aufzuwärmen und in immer kürzer werdenden Abständen an seinem Bier zu nippen. Dabei nuschelte er:
»Ja und nein. Da, wo ich herkomme …«
»Und wo kommen Sie her?«, unterbrach ihn Brunner.
»Senftenberg«, antwortete er wahrheitsgemäß, »aus der wunderschönen Lausitz.«
»Lausitz, wirklich sehr schön, da stimme ich Ihnen zu …« Und nach einem Räuspern wiederholte der andere seine Ausgangsfrage: »Hat es mit dem Job bei SMF geklappt?«
Richard hielt das Glas mit dem Bier wie ein Schutzschild vor seiner Brust. Woher wusste Brunner, dass er sich für einen Job vorgestellt hatte? Und dass SMF überhaupt welche vergab? Galt der andere als Insider, der aus welchem Grund auch immer Besuchern des Bergwerks auflauerte? Wer war dieser Brunner überhaupt? Der Mann erschien trotz seiner Größe untersetzt, was irgendwie im Widerspruch zu seinem harmonischen Gesicht stand. Zudem wirkte er ein wenig kurzatmig und seine Wangen waren eine Spur zu rot, ganz so, als ob er zu hohen Blutdruck hätte. Das kannte Richard von seinem Schwiegervater.
»Woher wissen Sie, dass ich vorhin ein Bewerbungsgespräch hatte?«
»Ich komme, sagen wir, aus der gleichen Branche. Ihr Anzug lässt vermuten, dass Sie sich vorgestellt haben, ganz die alte Schule. Heutzutage geht man in Alltagskleidung auf Jobsuche. Nun, ich habe Sie angesprochen, weil ich Ihnen ebenfalls ein Angebot machen möchte.«
»Ein Angebot? Was für ein Angebot? Sie wissen doch gar nichts über mich.« Richard war plötzlich auf der Hut und gleichzeitig neugierig.
»Nun, ich suche ebenfalls Mitarbeiter. Fachkräfte mit Bergbauerfahrung.«
In Richards Hirn war die Verblüffung dabei, den Kampf gegen die Bierschwere aufzunehmen. Er wusste nur eins sicher: Seit seiner Geburt fehlte ihm eine gesunde Portion Argwohn. Und dennoch – bot sich hier etwa die Gelegenheit, zwischen zwei Jobs zu wählen und sich am Ende das lukrativere Angebot aussuchen zu können? Manja würde begeistert sein. Zu gern würde er es ihr endlich ermöglichen, sich zu Hause um die Mädchen zu kümmern und nicht arbeiten zu müssen. In ihrer momentanen finanziellen Situation war dies undenkbar. Richard trank sein Bier aus. Vom Alkohol mutig geworden, fragte er:
»Was genau wollen Sie mir denn anbieten?«
»Ich möchte Sie bitten, darüber nachzudenken, nicht für SMF in Pöhla anzufangen, sondern für einen anderen Arbeitgeber in Ehrenfriedersdorf. Die Konditionen sind verhandelbar.«
»Ehren… wo?« Aber als er lange genug darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass in der Vergangenheit dort Zinn gefördert worden war.
»Ehrenfriedersdorf bei Annaberg-Buchholz, mitten im schönen Erzgebirge. Dort könnte schon bald Ihr Zuhause sein. Natürlich bekommen Sie jede Unterstützung, die Sie brauchen. Soll ich nach einer Wohnung oder einem Haus für Sie suchen? Sie haben doch Familie, oder?«
Es fiel Richard plötzlich schwer, zuzuhören und gleichzeitig über eine Antwort nachzudenken. Das mochte am Alkohol liegen, oder an der bleiernen Müdigkeit, die zunehmend Besitz von ihm ergriff.
»Familie? Ja, zwei Töchter habe ich.«
»Gratuliere. Dann also ein Haus mit Kinderzimmern?«
Haus? Kinderzimmer? Das ging Richard alles entschieden zu schnell. Oder fühlte es sich genau so an, wenn das Schicksal die Zügel in die Hand nahm? Wie auch immer, ein Haus würden sie sich niemals leisten können, so verlockend der Gedanke auch sein mochte. Er entschied, das Spiel mitzumachen, aber rein gar nichts mehr von sich preiszugeben.
»Wieso geben Sie mir nicht einfach Ihre Visitenkarte und unterbreiten mir einen konkreten Vorschlag? Ich rufe Sie an, wenn ich ein Angebot von SMF habe. Dann werden wir sehen, wer das Rennen macht. Und jetzt: Wie komme ich am schnellsten zum Bahnhof nach Schwarzenberg?«
»Trinken Sie in Ruhe noch eins, ich bringe Sie hin.«
*
In einen dicken Mantel gehüllt, schlenderte Manja Hähnlein am Ufer des Senftenberger Sees entlang. Wie immer half ihr die Ruhe über dem Wasser, sich zu erden. Hier konnte sie ihre Akkus laden. Manja hatte gesund glänzendes, rötlich schimmerndes Haar, das ihr in Wellen über den Rücken bis zum Po fiel. Die ungezähmte Mähne hatte ihr schon oft neidische Blicke eingebracht. Ihre grünen Augen suchten einen imaginären Punkt am Horizont, während sie loszulassen versuchte. Was würde die Zukunft bringen? Die Geister riefen sie an einen anderen Ort. Und wenn sie den Geistern nicht folgte, würde das nur Ärger bringen. Sie schaute gedankenverloren über das große glitzernde Wasser, zog den Kragen höher und begann recht bald zu frösteln.
Einen See, so hatte Richard ihr versichert, als er aus Sachsen zurückkam, würde es auch in der neuen Heimat geben. Neue Heimat, welch seltsame Paarung widersprüchlicher Worte. Tausche Senftenberger See gegen Greifenbachstauweiher, dachte sie. So jedenfalls wurde das Gewässer bei Ehrenfriedersdorf in einem Touristenführer über das Erzgebirge beschrieben – bald würde sie erfahren, dass die Einheimischen es schlicht Geyrischer Teich nannten.
Richard hatte einen von zwei angebotenen Arbeitsverträgen in Sachsen unterschrieben. Ehrenfriedersdorf hatte das Rennen vor Pöhla gemacht, was eindeutig an den Konditionen lag. Für den Anfang hatte ihr Mann erwogen, während der Woche in ein Pensionszimmer zu ziehen und an den Wochenenden zurück in die Lausitz zu pendeln. Aber war wäre das für ein Familienleben? Von den Geistern, die sie riefen, ganz zu schweigen, davon würde Manja ihm gar nicht erst erzählen. Als der neue Arbeitgeber ein bezahlbares Haus vermittelte, war der gemeinsame Umzug ins Erzgebirge dann endgültig beschlossene Sache. Die Geister … sie konnte mit kaum jemandem darüber reden, ohne für verrückt erklärt oder wenigstens belächelt zu werden. Daran hatte sie sich längst gewöhnt. Und bei genauerem Nachdenken hinterließ sie in Senftenberg nur wenig, was sie wirklich vermissen würde. Der See war eigentlich das Einzige.
Später am Nachmittag, es begann bereits zu dunkeln, kehrte Manja mit den Bus nach Hause zurück zu Mann und Kindern. Der sensiblen jungen Frau war klar, dass sie ihre Gespenster nicht loswerden würde, auch nicht, wenn sie mit ihrer Familie nach Sachsen zog. Aber das war in Ordnung, mit den Jahren war sie stark genug geworden, um sich ihnen zu stellen. Es hatte zwar ein paar Psychosen lang gedauert, bis sie die Ahnungen als das akzeptieren konnte, was sie waren: eine Gabe. Eine Gabe, mit der sie Gutes bewirken konnte, wenn sie sich nicht dagegen wehrte. Sie hatte sich lange gesträubt, aber nicht ernsthaft genug, wie der Psychologe meinte. Aber den Typen würde sie ebenso hinter sich lassen wie Senftenberg.
Richard stammte ursprünglich aus dem Ruhrgebiet. Er hatte dort in einer Kohlenzeche gearbeitet, als sie sich während eines Urlaubes im Harz kennen- und lieben lernten. Daraufhin war er ohne große Umstände ins Lausitzer Revier gewechselt und hatte Manja schon bald einen Ring an den Finger gesteckt, dann kamen die Kinder. Etwas komplizierter wurde ihr gemeinsames Leben erst, als Richard seinen Job verlor. Kohleausstieg … sie konnte das Wort nicht mehr hören.
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