Und so interessierte es seine Frau nicht ernsthaft, als er an einem frühen Samstagmorgen in den Bus stieg, zum Bahnhof fuhr, bekleidet mit seinem zerknitterten Hochzeitsanzug, bei dem der Hosenknopf nicht mehr zuging. Während des Babysittens hatte er von all dem süßen Brei zugenommen, den die Kleine nicht aufessen wollte. Unter Richards Arm klemmte eine billige Aktentasche aus dem Restpostenmarkt, die nicht mehr beinhaltete als eine Kopie seiner Bewerbungsunterlagen und einen Bahnfahrplan. Seit langem war er wieder einmal allein unterwegs und wunderte sich, wie ungewohnt sich das anfühlte, wie unausgefüllt er sich vorkam ohne die Kinder.
Der Sitz der Sächsischen Mineralienförderung AG befand sich in Halsbrücke, natürlich hatte er das recherchiert, um wenigstens ein bisschen vorbereitet zu sein. Das Gespräch fand allerdings in Pöhla statt, direkt im neuen Bergwerk Pöhla-Globenstein. Als er in Schwarzenberg aus der Bahn stieg und sich ein Taxi rief, überkam ihn mit einem Male Nervosität.
Richards Hände wurden zuerst feucht, dann kalt, und sein Mund fühlte sich ziemlich trocken an, als er wie ein Traumtänzer gegenüber einer sehr attraktiven Frau Platz nahm. Seine Konzentration war eh schon beeinträchtigt und er wollte sich von der Umgebung nicht auch noch ablenken lassen, es handelte sich wohl um einen Pausenraum für die Arbeiter, vermutete er.
»Was wissen Sie über unser Unternehmen?«, fragte die Frau, die in seinem Alter sein mochte und sich als Personalbeauftragte vorgestellt hatte, nachdem sie sich für sein Kommen bedankt hatte.
Richard hatte diese Frage erwartet und seine Hausaufgaben gemacht, wie ein Tonband spulte er die Informationen herunter, die er im Internet gesammelt hatte.
»… na ja und die Bauarbeiten für das Bergwerk hier in Pöhla begannen schon 2016 mit einem Erkundungsschacht, dem ein Jahr später der Förderturm folgte. Gefördert wird seit vergangenem Jahr, also seit 2019. Derzeit ist Pöhla die größte Zinnlagerstätte Europas«, schloss er und nahm eine lauernde Haltung ein, wie ein Schüler, der eine gute Note für seinen Vortrag erwartete.
Die Frau nickte unverfänglich und fragte nach dem Grund seiner Bewerbung. Richard gab wahrheitsgemäß den politisch forcierten Untergang des Lausitzer Braunkohlereviers an und dass er sich in Elternzeit befand, damit seine Frau arbeiten konnte. Ob er für den Job umziehen oder an den Wochenenden pendeln wollte, erkundigte sich die Frau und Richard fragte sich, was das für eine Rolle spielte, das war doch wohl seine persönliche Angelegenheit. Ganz so direkt fiel seine Antwort aber nicht aus, er erklärte, darüber noch nicht nachgedacht zu haben, im Falle einer Anstellung würde er dies gemeinsam mit seiner Familie entscheiden.
»Vielen Dank, dass Sie sich vorgestellt haben, wir melden uns bei Ihnen.« Wieder lächelte die Personalerin ihr unverbindliches Lächeln und verabschiedete ihn förmlich.
Als er ging, begegnete er einem weiteren Bewerber, jedenfalls einem Mann in mittleren Jahren mit einer Aktentasche unter dem Arm, die auch aus dem Sonderpostenmarkt zu stammen schien. Jedenfalls sah sie Richards Modell zum Verwechseln ähnlich.
Mit einem unbestimmten Gefühl der Ziellosigkeit trat Richard in den trüben Nachmittag hinaus, kühle Feuchtigkeit erfüllte die Luft und kroch unter seine Kleider. Diesiger Nebel hüllte die Pöhlaer Straßen und Häuser in gespenstische Atmosphäre. War dies ein schlechtes Omen? Kurz dachte er darüber nach, wie Manja das Wetterphänomen an seiner Stelle bewerten würde, vor allem jetzt, in ihrer sensiblen Phase. Seine Ehefrau war mental empfänglich auf eine Art, die sich nur schwer erklären ließ. Am Anfang war es ihm fast unheimlich gewesen, dass sie Dinge zu wissen schien, die sie gar nicht wissen konnte, so als ob sie eine Hellseherin wäre. Diejenigen, die Manja nur flüchtig begegneten und sie nur oberflächlich kannten, bezeichneten seine Frau schnell als kompliziert und schrecklich überspannt. Er selbst wusste inzwischen, dass meistens etwas dran war an ihren Ahnungen. Manja konnte zwischen den Zeilen lesen, und er neigte dazu, dies je nach Situation als Gabe oder Fluch zu bezeichnen. Manchmal war es ziemlich peinlich, wenn sie in der Öffentlichkeit ungeniert von Gespenstern sprach, die sie wahrnahm, vorzugsweise in der Nähe des Friedhofs, gern auch in alten Häusern. Bei nebliger Wetterlage schien ihr das besonders gut zu gelingen. Leider bediente sie damit ganz unfreiwillig das Klischee einer Frau, die wegen der Kinder entweder zu wenig Schlaf bekam oder sich einfach nur wichtigmachen wollte.
Jedenfalls dachte Richard Hähnlein in diesem Moment an seine Frau, als er tief ausatmend im Nebel stand und die Anspannung von ihm abfiel. Passive Gleichgültigkeit erfasste ihn, er hatte getan, was er konnte, und hoffentlich den Erwartungen gemäß auf die Fragen geantwortet, alles weitere lag nicht mehr in seiner Hand. Es verlangte ihn nach einem Bier. Und die sächsischen Biere hatten einen guten Ruf zu verteidigen.
»Und, hat’s geklappt mit ’nem neuen Job?« Eine dunkel gekleidete Person, die ihn um fast einen Kopf überragte, materialisierte sich aus den dichten Nebelschwaden.
Richard zuckte zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden, und schalt sich einen Feigling, als er spürte, wie die Furcht vor dem Unbekannten seinen Rücken hinaufkroch. Da war die Stimme seiner Mutter, die ihn an seine Kindheit erinnerte und tief aus seinem Inneren echote: »Nimm dich in Acht vor dem Schwarzen Mann«, was so viel hieß wie: Gehe niemals mit Fremden mit. Sprach der Unbekannte tatsächlich mit ihm, Richard Hähnlein aus der schönen Lausitz? Da weit und breit sonst niemand zu sehen war, musste es wohl so sein.
»Reden Sie mit mir?«, vergewisserte er sich, um Festigkeit in der Stimme bemüht, und beendete die Frage mit einem Räuspern.
»Ich versuche es wenigstens.«
Richard wollte aber nicht plaudern. Ihm stand der Sinn einfach nur nach einem Bier, das er ungestört genießen wollte, bevor der alltägliche Familienwahnsinn ihn wieder einholte. Also beschloss er, auch wenn es kindisch und unfreundlich war, den Fremden einfach stehen zu lassen und sich auf die Suche nach einer Kneipe zu begeben. In seinem dünnen Jackett begann er augenblicklich zu frieren, es war kalt im Erzgebirge. Er hatte Zeit genug, um sich gemütlich in einen Gastraum zu setzen, die Heimreise würde er erst am späten Nachmittag antreten.
»Sie sehen aus, als hätten Sie Lust auf ein Bier?«
Konnte der Unbekannte Gedanken lesen oder stand Richard sein Bedürfnis so deutlich ins Gesicht geschrieben? Längst kroch ihm die feuchte Kälte auch in die dünnen Schuhe und er fing an, auf der Stelle hin und her zu tänzeln. Er musste an einen Fernsehbeitrag denken, denn er irgendwann einmal gesehen hatte, in dem verrückte Leute sich selbstgebastelte Hüte aus Aluminiumfolie auf die Köpfe setzten, um ihre Gedanken vor fremden Zugriffen zu schützen … Verrückte Leute – so verrückt wie seine Ehefrau? Und überhaupt, auch ihm wäre eine Rolle Aluminiumfolie plötzlich ganz recht gewesen.
»Na, kommen Sie, ich lade Sie ein!«
Wer war der Mann? Wieder meinte er die mahnende Stimme seiner Mutter zu hören, die ihm riet, sich von Fremden fernzuhalten und keinesfalls mit ihnen mitzugehen. Und natürlich hatte sie mit jedem einzelnen Rat, den sie ihm im Laufe seines Lebens gegeben hatte, recht behalten. Es konnte kein Fehler sein, sich auch jetzt daran zu halten. Doch wie von unsichtbarer Hand geführt, folgte er dem anderen, der schon im Nebel verschwunden war, ins Ungewisse … und fand sich wieder in einem gemütlichen Kneipchen, wo man in angenehmer Atmosphäre wohlschmeckendes Bier serviert bekam. Kurze Zeit später hatte er sich völlig entspannt, der Schaum vom Rand des Bierglases zierte sein zufrieden grinsendes Gesicht und das Frösteln verschwand.
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