“David, hast du den Segen vor dem Essen gemacht?”, fragte Vater. Ich war so erschrocken, dass ich nicht weiter kauen konnte und sagte mit rotem Gesicht: “Ja.”
Karoline flüsterte: “Es ist nicht wahr! Ich werde es Vater sagen.” Mit vollem Mund holte ich schnell den Segen nach und Vater verzieh mir – wohl ebenso wie der Allmächtige.
Am nächsten Morgen kam der Hausbesitzer sich nach uns erkundigen. Wir hörten ihn im Zimmer mit Vater sprechen:
“Herr Rabbiner, Herr Rabbiner” sagte er immerzu, als wolle er sich selbst damit beehren.
“Mamme, willst du nicht mit ihm reden?”
“Was soll ich ihm sagen, David?”
“Es war ja kein geliehener Mais, ich habe ihn doch einfach genommen.”
“Gut, gut, du hast Recht, wir haben einen Vorschuss genommen; ich werde es bei ihm abarbeiten.”
Mit Mutter kam immer alles in Ordnung.
Als der Herr gegangen war, rief Vater Mutter zu sich in das Zimmer. Wir Kinder stellten uns erregt an die Tür und lauschten. Da war die Stimme von Vater so traurig und still, dass es mir bitter weh tat.
“Also, Channe Fegele, drei Gulden die Woche, etwas Mehl und Kartoffeln. Du kannst dir Hühner halten und von dem Mais in der Scheune darfst du sie füttern. Hühner legen Eier, aus Eiern kommen Küken, aus Küken werden Hühner, die erneut Eier legen ... Wenn das so weiter geht, werden wir reiche Leute werden. Bist du zufrieden?”
“Ja, es wird schon gut sein”, sagte Mutter still. Wir bekamen keine Hühner, aber aßen morgens und abends ihren Mais.
Fragen und Zweifel
In Sajó-Kesznyetem war der katholische Geistliche gleichzeitig auch der Schullehrer und die Schule lag dicht neben der Kirche. Vater nahm mich eines Morgens bei der Hand und wir gingen zu ihm; mit der Bedingung, alles nachzuholen, wurde ich endlich angenommen. Mein Eifer brachte mich schnell auf den ersten Platz. Ein Talmudist muss doch zeigen, dass er lernen kann. Aber dies schien dem Herren Lehrer nicht zu gefallen.
Es gab hier auch noch eine andere Schwierigkeit. Mutter hatte meine besten Kleider herausgesucht, damit ich mich nicht unter den Christenkindern schämen brauchte. So wurde ich eine Sensation mit meinem Kaftan, großen Hut und weißen Strümpfen und ich musste lange Zeit meine Päis verteidigen. Wir Kinder waren zwei Welten, die sich begegneten, doch wir wollten uns kennenlernen.
“Warum bist du am Sonnabend nicht in der Schule? Warum kommst du nicht zum Katechismus? Warum kommt deine Familie nicht in die Kirche?”
“Weil ich zu Hause alle Tage mit meinem Vater die heiligen Schriften studiere und am Sonntag auch.”
Eines Sonntags hatte der Geistliche in der Kirche gesagt:
“Die Juden haben unseren Herrn Jesus Christus an das Kreuz genagelt!”
Die Schulkameraden wiederholten es mir. Es erfasste mich eine Mischung aus Empörung, Schreck und Hilflosigkeit; ich war ganz allein der Beschuldigte. Seit diesem Tag gingen die Kinder nicht mehr mit mir spielen, sprachen auch nicht mehr mit mir. Ich wurde mehr und mehr mit bösen Blicken angeschaut.
“Papa, ich will nicht mehr zur Schule gehen.”
“Und warum, David?”
“Der Herr Lehrer hat in der Kirche gesagt, dass die Juden den Jesus Christus an das Kreuz genagelt haben und seitdem sprechen die Kinder nicht mehr mit mir.”
Vater schaute von seinem Buch auf, mir schien, als würde er plötzlich groß und stark, seine Augen schauten weit, weit hinaus, als wenn er einen Feind kommen sähe. “David, schaue ihm in die Augen, diesem Lehrer, du wirst erleben, er wird die seinen niederschlagen. Nicht du sollst dich schämen, sondern er!” Wie gerne wäre ich auch so groß und stark geworden wie Vater. Ich versuchte, von meinem ersten Platz in der Klasse Vaters Vorschrift auszuführen. Tatsächlich, nach einem Moment des “Kampfes der Blicke” wich der Herr Lehrer meinen Augen aus! Aber ich zitterte.
Im Geheimen beobachtete ich nun das Hineingehen und das Hinausgehen aus der Kirche. Wie kamen sie doch so feierlich mit ihren schönen, buntgestickten Kleidern und so ernst, fast als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Beim Herauskommen gingen die Männer gleich ins Wirtshaus nebenan, kamen mit lustigem Lachen heraus zu den Frauen und Mädchen, fassten sie mit ihren Händen an. Die Mädchen kreischten und freuten sich. Vor Scham rannte ich heim. Durfte ich mir überhaupt so etwas anschauen?
Aber wenn sie alle in ihrem Heiligtum waren, kam eine selten wunderbare Musik dort heraus. Wie konnte ich Vater erzählen, dass diese Musik mich sehr tief ergriff, als spräche der Allmächtige auf diese Weise zu den Seelen. War es ein Harmonium? Eine Orgel? Ich hatte dergleichen Instrumente nie gehört. Mit durchwühlter Seele saß ich bis spät in die Nächte hinein neben Vater, in unseren heiligen Schriften nach Antwort suchend. Waren diese Christen nicht erstaunlich unrein? Aßen das Fleisch vom Schwein, was uns streng verboten ist, aßen sogar sein Blut, worin doch die Seele lebt! Auch kochten sie das Fleisch vom Kalb in der Milch seiner eigenen Mutter und dachten darüber gar nicht nach, es schien ihnen keine Sünde zu sein. Und war es nicht ein Götzendienst, den traurigen Mann am Kreuz um Hilfe anzubeten? Was konnte der schon helfen? Warum sollten wir ihn angenagelt haben? Außerdem musste er eine sehr reiche Mutter haben, sie wurde zu manchen Feiertagen mit ihrer Krone durch das Dorf getragen.
Wie war unsere Mutter doch dunkel und arm angezogen, und ich bemerkte, dass sie oft für Stunden das Haus verließ und dies ängstigte mich sehr. Eines Tages ließ ich mein offenes Buch auf dem Tisch liegen, um Mutter unbemerkt zu folgen. Unsere Barfüße liefen durch den sanften Staub der Erde, der sie zu streicheln schien. Wie war es gut draußen im warmen Sonnenlicht! Plötzlich verschwand Mutter in einem christlichen Hause. Mit dem Mut, sie zu beschützen, folgte ich und sah, dass Mutter mit ihren Händen die Wäsche der Unreinen wusch.
“David, was machst du da? Du sollst doch bei Vater bleiben.”
“Ich komme dich beschützen!”
“Du brauchst mich nicht beschützen. Die Bauersfrauen haben mich gern. Aber es soll für Vater ein Geheimnis bleiben, dass ich draußen arbeite.”
“Ist es erlaubt, Mamme, dass du die Kleider der Christen anrührst?”
“Hast du etwas darüber gelesen?”
“Nein, aber sie beten den Gekreuzigten an und seine Mutter. Es gibt auch einen Vater, eine ganze Familie! Und was werden sie machen, wenn noch mehr Kinder dazukommen? Es gibt doch nur einen Gott! Also sind sie Götzendiener.”
“Lass sie nur auf diese ihre Bilder schauen, David, bis eines Tages der Allmächtige selbst zu ihnen sprechen wird. Vielleicht fühlen sie Ihn schon hinter diesen Bildern, wie Er alles überwacht. Auf ihren Kleidern ist nur der Staub der Erde, und der Staub der Erde ist von Gott geschaffen. Weißt du, Davidel, Jude sein ist sehr schwer. Wir haben keine Bilder, ‘Vor-Bilder’ zwischen dem Allmächtigen und uns selbst. Wir beten gleich zu Ihm. Darum müssen wir Ihn wirklich fühlen. Er ist ja überall!”
Wie wurde alles so still und sanft neben Mamme. Wie konnte ich sie alleine lassen? Mutter erlaubte mir dann, im Brunnen das Wasser zum Spülen der Wäsche zu holen.
Als wir abends heimkamen, stand Vater mit seinem Wanderstock in der Türe. “David, du lässt dein Buch aufgeschlagen und schleichst wie ein Dieb aus dem Haus. Welche Schande! Was wird aus dir werden? Jetzt sind es deine neugierigen Füße, die sich beschmutzen, später wird es dein ganzer Körper sein!”
Vater hob den Stock. Im Gefühl meiner Unschuld und Mutters Geheimnis hütend, kam kein Laut aus meinem Munde.
“Elie, du wirst ihn töten! Hast du dafür Kinder gezeugt?”
Und da geschah es: Mit der Kraft ihrer sanften Güte nahm Mutter den Stock aus Vaters Hand. Da überfiel mich ein großer Zweifel, ob nicht Mutters sanfte Güte sogar noch schwerer zu erreichen sei als ein prachtvoller Bart der Weisheit? War Mutter nicht stärker gewesen als Vaters Zorn? Trotzdem fühlte ich, dass auch Vater mich liebte. Auf seine Art.
Читать дальше