Ich habe nie mit ihm über diese Zeit gesprochen.
Gleich nach dem Krieg sagte mein Vater: »Wir gehen am Sonntag in den Gottesdienst.« Ich fragte mich, was das soll. Die ganzen Jahre ging es ohne Kirche. Wir waren zwar ursprünglich evangelisch, aber aus der Kirche ausgetreten, gottgläubig, wie das so schön hieß. Ich musste dazu noch ein Lied auswendig lernen. Der Pfarrer lud uns Kinder zum Unterricht ein, am Montag von 8:00 Uhr bis 10:00 Uhr. Wir saßen aber bis 11:00 Uhr, weil das für uns so interessant und spannend war. Für mich vor allem, weil ich dort erstmalig erlebte, dass ich angenommen wurde, einfach so, wie ich bin, mit dem, was ich gesagt habe und was ich mir dachte, nicht bewertet wurde, ob man am stärksten, am kräftigsten oder am schnellsten war, dem Sollmaß beim Jungvolk entsprach. Ein Jahr später lud uns der Pfarrer zu einer einwöchigen Rüstzeit* ein mit Lernen, Spielen, Gesprächen. Obwohl es nicht weit von zu Hause war, wollten wir, meine Schwester und ich, unbedingt dort mitmachen und übernachten.
1948 wurde ich konfirmiert, zwei Jahre später als gewöhnlich, weil ich noch nicht so lange kirchlichen Unterricht hatte. Zur Vorbereitung auf die Konfirmation gab es eine Woche lang eine Rüstzeit*. Da bekamen wir, zehn Jungs und 30 Mädchen, eine Woche schulfrei; es entstanden da viele Bekanntschaften. Nach der Konfirmation wurde mir klar, dass ich Theologie studieren wollte – mein Vater hatte, weil er das Gymnasium besuchte, alte griechische Bücher, und die hatte ich mir vorgenommen. Mit diesem Entschluss machte ich Abitur und ging auf die kirchliche Hochschule in Neuendettelsau. In den ersten beiden Semestern lernte ich Griechisch und im dritten Hebräisch. Die weiteren Semester absolvierte ich an den Unis in Erlangen und Heidelberg. Das erste kirchliche Examen legte ich 1955 in Ansbach ab. Danach ging ich ins Predigerseminar nach Bayreuth. In Erlangen hatte ich meine erste Frau kennengelernt. Sie kam aus einem Pfarrhaus und studierte Germanistik und Geschichte. Ich habe mich mit ihr zunächst verlobt, denn wir konnten nicht heiraten. In der Landeskirche durfte man erst mit 27 Jahren heiraten, oder wenn man das zweite Examen gemacht hatte, das hatte ich aber noch lange nicht.
Zu uns ins Predigerseminar in Bayreuth war der Rektor des Predigerseminars aus Mecklenburg gekommen. Diese Kirche in Mecklenburg war die Partnerkirche von uns in Bayern. Es ging ihm darum, den Kontakt zur Partnerkirche zu festigen. Ich entschloss mich, mit meiner Verlobten nach Mecklenburg zu gehen. Dabei spielte eine Rolle, dass man innerhalb der Kirche etwas für die Partnerkirche tun wollte. Mir war das aber zu wenig, ich wollte etwas mehr erleben und erfahren. Als junger Mensch ist man bereit, den Aufbruch zu wagen, also etwas Abenteuer. Und außerdem mussten wir, damit meine Verlobte mitkonnte, vorher heiraten. So heirateten wir im Dezember 1956.
Ich kam natürlich nicht sofort nach Mecklenburg, sondern hatte erst einmal eine Vikarsstelle in Fürstenfeldbruck bei München von 1956 bis 1957, bis wir endlich die Einreisepapiere erhielten und 1957 in die DDR fahren konnten. Meine Eltern hatten nichts dagegen, das stand gar nicht zur Debatte. Wir wurden, als wir ankamen, sofort DDR-Bürger, bekamen Personalausweise der DDR. Mein zweites Examen legte ich schon in Schwerin bei der mecklenburgischen Landeskirche ab.
Die Situation war ziemlich schwierig, nicht so sehr von der mecklenburgischen Sprache her, die man gerne hörte und zu verstehen lernte, aber dass man zu wenig Kontakte zu anderen Kollegen hatte. Wir wohnten die ersten Wochen bei einem Kollegen, der ein paar Jahre älter war als ich. Ich fühlte mich ziemlich isoliert und wechselte 1965 zu einer Dorfpfarrstelle in die Nähe von Malchin. Hier war das Entscheidende für mich die Gemeindeseminararbeit, die wir zusammen mit drei weiteren Gemeinden entwickelten. Diese Idee kam von der brandenburgischen Kirche. Ich las darüber in Kirchenblättern und war angetan von der Idee, mit Gruppen in der Gemeinde Gesprächsabende zu gestalten. Dabei wurden schon in der Vorbereitung Laien, Nichttheologen, einbezogen. Wir sprachen in dieser Gemeindeseminararbeit über Bibel- und Literaturtexte. Vorgaben dazu gab es nicht, aber Texte, die vorgeschlagen wurden.
Einmal bekam ich eine Einladung mit Freistellung zu einem Studienkurs für drei Monate nach Greifswald. Wir sprachen über theologische Strömungen. So bekam ich einen weiteren Zugang zur Theologie. Dabei habe ich den Leiter des brandenburgischen Pastoralkollegs kennengelernt. Das war der Vater von Angela Merkel. Mit ihm gab es auch anlässlich eines anderen Kurses ein Nachfolgetreffen in Templin. Ich nahm teil und lernte eine Kollegin kennen, die in Brandenburg tätig war, mit der ich mich schnell sehr gut in theologischen Fragen verstand. Das war 1973.
Eines Tages besuchte sie mich in Mecklenburg mit einem Kollegen. Beide kamen von der Landjugendarbeit, suchten einen Nachfolger für Brandenburg und warben mich, bei ihnen einzusteigen. Es ging darum, mit den Berufstätigen, auch jungen Erwachsenen, die in der Landwirtschaft, in den LPGen, tätig waren, Kontakte herzustellen. Uns wurden auch mal seitens des Staates Steine in den Weg gelegt, aber im Wesentlichen hat man uns als Pfarrer machen lassen. Was andere in der DDR nicht machen konnten, konnten wir.
Meine Frau hatte inzwischen eine theologische Ausbildung gemacht, und es wurde ihr erlaubt, eine Pfarrstelle in Brandenburg zu übernehmen. Wir zogen 1974 nach Brandenburg um. Auch hier waren uns die Familienrüstzeiten* wichtig. Eine Woche im Winter, meist in den Winterferien, mit circa 40 Teilnehmern, Eltern mit ihren Kindern. Da waren zwei Pfarrer dabei und zwei Katechetinnen. So wurde für die Kinder und für die Erwachsenen etwas gemacht. Es gab Rüstzeitenheime, da konnte man zum Beispiel nach Eisenach oder Buckow fahren. Meine Arbeit mit Jugendlichen, Kindern, Konfirmanden und Familien in der Rüstzeit* behielten wir all die Jahre bei. Mit bis zu 40 Leuten haben wir gezeltet, sind gewandert. Für die Familien führten wir das auch an Wochenenden durch. Zu thematischen Abenden haben wir Bibeltexte gelesen. Den Jugendlichen übertrugen wir frühzeitig Verantwortung für die Betreuung der jüngeren Kinder.
Bei diesem Familienrüsten habe ich meine jetzige Frau kennengelernt. Ich hatte von ihr zwar schon gehört, war ihr bei kirchlichen Treffen begegnet, aber bei der Rüste in der Nähe von Potsdam sind wir uns sehr nahegekommen. Als ich nach Hause kam, wollte ich das meiner damaligen Frau nicht verschweigen und habe ihr von meiner Liebe erzählt, die ich auf dieser Rüste erlebt hatte. Ich besuchte meine zweite Frau zunächst in ihrem Dorf, wo sie mit ihren beiden Töchtern aus ihrer geschiedenen Ehe lebte, blieb über Nacht. Meine Frau konnte sich nicht vorstellen, dass ich noch mit einer anderen in einer Beziehung lebte. Ich konnte und wollte aber nicht den Kontakt zu ihr abbrechen und besuchte sie weiterhin. Daraufhin hat meine Frau sich an den Superintendenten gewandt, der ein Disziplinarverfahren gegen mich in Gang brachte. Ich musste aus dem Pfarrdienst ausscheiden, in einer zweiten Verhandlung wurde das Strafmaß auf zwei Jahre verkürzt. In dieser Zeit, 1981, bekam ich Arbeit in einem kirchlichen Krankenhaus in Berlin, wo ich Arbeiten im Hof und in den Grünanlagen, Transportfahrten für Krankenhausmaterial und ähnliche Dinge verrichten musste. Dabei konnte ich mich zumindest mit meiner jetzigen Frau und deren zwei Töchtern treffen. Beide Töchter hatten zu ihrem Vater keinen Kontakt. Gegen Ende des Jahres musste nun entschieden werden, was ich weiter mache und wo ich wohnen werde. Mir wurde die Leitung eines kirchlichen Altersheimes in einer Stadt nahe der Oder übertragen. Inzwischen waren wir geschieden. Bis zu unserer Eheschließung durfte meine jetzige Frau nicht bei mir wohnen. Unser Leben war quasi inoffiziell. 1982 im Februar heirateten wir standesamtlich. Ihre damals neun- und elfjährigen Töchter haben meinen Namen übernommen und ein Jahr später adoptierte ich sie. Sie sollten die gleichen Rechte haben wie das gemeinsame Kind, das wir erwarteten. Im Laufe des Jahres wurde unsere Tochter geboren und zwei Jahre später unser Sohn.
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