Von nun an folgt die Entwicklung der Handmotorik zwei Regeln, die eine immer differenziertere motorische Steuerung erlauben:
1. Die Reifung der Armmotorik schreitet von den Muskeln der Schulter und des Oberarms zu den Muskeln des Unterarms und der Hand.
2. Die Reifung der Handmotorik schreitet von der Handfläche zu den Fingerspitzen und vom Greifen mit allen Fingern zu der Gegenstellung (Opposition) von Daumen und Zeigefinger.
Mit vier Monaten streckt das Kind die Hand zu einem Objekt aus, öffnet die Hand, ergreift den Gegenstand, betrachtet ihn und führt ihn zum Mund. Die Hände spielen in der Körpermittellinie miteinander.
Mit fünf Monaten greift das Kind auch nach einem etwas entfernter gehaltenen Gegenstand, indem es den Arm streckt.
Mit sechs Monaten wird ein Gegenstand gezielt und mit der ganzen Handfläche (palmar) und dem gestreckten Daumen ergriffen. Interessante Gegenstände wandern von einer Hand in die andere. Das Kind beginnt, Hand- und Armbewegungen der Bezugsperson zu imitieren.
Im siebten und achten Monat lernt das Kind, kurzzeitig zwei Gegenstände mit beiden Händen gleichzeitig festzuhalten. Kleine Gegenstände werden nun mit gestreckten Fingern und dem gestreckten Daumen ergriffen, und zwar mit der Basis von Daumen und Zeigefinger, ohne dass die Handfläche den Gegenstand berührt (Scherengriff). Das Kind hantiert mit Spielzeug und setzt zwei Objekte in Bezug zueinander, z. B. indem es sie gegeneinanderschlägt.
Mit neun Monaten kann ein Kind einen Gegenstand absichtlich fallen lassen, nicht nur verlieren oder vom Tisch herunterwischen.
Mit zehn Monaten erwirbt das Kind den Pinzettengriff, zwischen dem Daumen und dem gestreckten Zeigefinger. Es kann damit z. B. einen Krümel, eine Rosine oder eine Erbse ergreifen. Beim Spitzgriff (oder Zangengriff) opponiert der Daumen zur Kuppe des gebeugten Zeigefingers. Daumen und Zeigefinger öffnen diese Klammer gerade so weit, wie der Größe des Objekts entspricht.
Am Ende des ersten Lebensjahrs kann das Kind einen Bleistift halten und damit ein bisschen auf Papier kritzeln. Es legt Spielzeug in eine Kiste und holt es heraus. Es betastet Oberflächen und unterscheidet Materialien und Oberflächen, für die Erwachsenen an Behagen und Unbehagen erkennbar.
Mit 11–15 Monaten wird die Handmotorik neu gefordert: Mit visueller Steuerung gelingen das Greifen eines Objekts, das Stapeln auf ein anderes Objekt und das gezielte Loslassen. Vor allem das gezielte Loslassen ist an eine Reifung der Großhirnrinde gebunden und an eine gute Auge-Hand-Koordination. Diese Fähigkeit wird nur wenige Wochen später in den Dienst eines Spiels gestellt: zwei Objekte kombinieren, Klotz in ein Kästchen legen, eine Puppe auf einen Stuhl setzen. Mit 13–21 Monaten gelingt auch das Stapeln von drei Klötzen und mit 18 Monaten mit vier Klötzen.
Erste Rotationsbewegungen kann man bereits mit 12–14 Monaten beobachten: Die meisten Kinder versuchen in diesem Alter, einen Verschluss mit leicht drehenden Hin- und Her-Bewegungen zu lösen. Das Drehen einer kleinen Kurbel, z. B. an einer Spieldose, gelingt im vollen Drehumfang mit 22 Monaten, das Aufschrauben einer Flasche mit 25–30 Monaten.
Bei den Altersangaben der folgenden Entwicklungsschritte besteht eine interindividuelle Variation von plus/minus vier Monaten.
Mit 18 Monaten kann die Handmotorik dazu dienen, einen Gegenstand mit einem anderen zu befördern, z. B. an einer Decke ziehen, um das darauf liegende Spielzeug herzuziehen. Etwa zum gleichen Zeitpunkt schüttet das Kind Flüssigkeit oder Sand von einem Behälter in einen anderen. Dazu ist eine drehende Handbewegung nötig, die die Handfläche am schüttenden Gefäß nach unten bringt. Die ersten »Türmchen« aus zwei, später vier Bauklötzen werden gestapelt und zwei Gegenstände miteinander kombiniert und in Beziehung gebracht.
Mit 19 Monaten Monate kritzelt das Kind kräftige Striche auf ein Papier. Mit 22 Monaten imitiert es einen waagerechten Strich und fasst dabei den Stift schon in der Mitte, manchmal sogar schon unten. Mit 24 Monaten erscheinen die ersten spiralförmigen Striche. Mit 36 Monaten kann das Kind einen Kreis zeichnen.
Mit 24 Monaten erreicht das Türmchen bereits eine Höhe von fünf Klötzen. Die Reifung der Visuomotorik zusammen mit gereifter Daumen-Zeigefinger-Opposition erlaubt das erste Auffädeln von dicken Holzperlen. Die Beziehung zwischen zwei Objekten geht jetzt weit über das Stapeln, Hineinlegen und Herausholen hinaus: Flüssigkeiten, Reiskörner oder Sand werden mit vorsichtig kippenden Bewegungen von einem Behälter in den anderen »gegossen«. Mit einer Schere zu schneiden ist eine recht schwierige Tätigkeit. Sie gelingt mit 28(–34) Monaten. Mit drei Jahren hat ein Kind die wesentlichen Muster der Handmotorik erreicht.
Im vierten bis sechsten Lebensjahr werden die erlernten Fähigkeiten verfeinert und in der Händigkeit abgestimmt. Dazu gehört auch die Zuweisung einer Halte- und einer Arbeitshand, wie es bei vielen Alltagshandlungen, Werktätigkeiten und Spielen notwendig ist.
5.2 Untersuchung der Handbewegungen und ihrer Störungen
Bei der Untersuchung der Handmotorik beobachtet man die Fähigkeit,
• eine Bewegung durchzuführen,
• das Bewegungsausmaß bzw. Einschränkungen der Bewegung,
• die Kraft der Bewegung,
• die Geschmeidigkeit und Flüssigkeit der Bewegung (Handgeschicklichkeit) und schließlich auch
• die Dauer der Handlungsplanung, nachdem man die Bewegung einmal vorgemacht hat.
Die Oppositionsfähigkeit des Daumens gegenüber allen anderen Fingern ist der wichtigste zu beobachtende Schritt bei der Diagnostik der Handmotorik.
Die Beobachtung von Handbewegungen gelingt im Alltag und mit wenigen Hilfsmitteln:
• Holzperlen auffädeln,
• die Stifthaltung (nicht das Malen!),
• einen Turm, dann eine Treppe aus sechs Holzklötzen bauen,
• eine Walze aus Knetgummi rollen,
• die Opposition von Daumen gegen den Zeige- und den Mittelfinger mit einer Spielzeugspritze,
• Rotationsbewegungen beim Drehen einer Schraube, eines Rades und eines Stiftes,
• eine kleine Perle oder eine Holzkugel, die zwischen Daumen und Zeigefinger auf- und ablaufen, und danach zwischen Daumen und Mittelfinger und am Ende zwischen Daumen und Ringfinger,
• Brot schmieren, einen Apfel schneiden,
• Knöpfe öffnen, einen Reißverschluss schließen.
Alle Bewegungen werden sowohl mit der rechten als auch der linken Hand ausgeführt. Neben der Untersuchung der Koordinationsfähigkeit gelingt so auch eine Einschätzung der Händigkeit. Steckbretter mit unterschiedlich großen Holzstiften und Bohrungen sind geeignet, die Geschwindigkeit und handmotorische Geschicklichkeit zu überprüfen (Pegboard-Test).
Im Bereich der medizinischen Diagnostik gibt es für spezielle Fragestellungen, z. B. bei Kindern mit Zerebralparese das Assisting Hand Assessment (AHA; Krumhilde-Sundholm, Holmefur, Kottorp & Eliasson, 2007) und das Manual Ability Classification System (MACS; Delhusen-Carnahan, Arner & Hägglund, 2007; Kuijper, van der Wilden, Ketelaar & Gorter, 2010). Ergotherapeuten nutzen häufig die Movement Assessment Battery for Children – 2nd Rev. (M-ABC-2; Petermann et al., 2015) und den Sensory Integration and Praxis-Test (SIPT) (Ayres, 1989).
Zur Beobachtung der Handmotorik in definierten Altersgruppen sind einzelne Beispiele aus dem »Beobachtungsbogen Kita 1–6 (BB 1–6)« (Rosenkötter, 2016) angeführt.
Handmotorik bis 36 Monate
• Greift das Kind sehr kleine Gegenstände präzise mit den Fingerkuppen? (z. B. kleine Holzperlen, Walzenstecker, kleiner als 1 cm im Durchmesser)
• Kann es Holzperlen auf eine Schnur fädeln? (Perlengröße 1–2 cm)
• Baut es einen Turm aus acht Klötzen? (Holzklötze, Kantenlänge etwa 3 cm, keine Lego- oder Duplosteine)
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