Sie schaltete ihren Rechner an und wartete ungeduldig, bis das Betriebssystem hochgefahren war. Den Brief hatte Berit geschickt, das wusste sie noch. Damals hieß sie Eberth. Doch die meisten Mädchen ihres Alters hatten irgendwann geheiratet und dann den Namen ihres Mannes angenommen. Verdammt, wie hieß Berit jetzt? Angestrengt dachte Manuela nach. Es war die Abwandlung irgendeiner Farbe gewesen, glaubte sie sich zu entsinnen. Weiß oder Weiße? Sie gab beides in die Suchzeile vom Telefonbuch ein, erfolglos. Roth oder Rother vielleicht? Wieder nicht. Schwarz oder Schwarzer? Halt, da sah sie es doch! Ein Tippfehler verhalf ihr nun zum Erfolg. Schwerzer, so hieß Berit und ihre Telefonnummer stand gleich daneben.
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer ins Display ihres Smartphones ein und drückte auf Anruf. Der langgezogene Ton für ein Klingelzeichen drang an ihr Ohr. Nach dem vierten Tuten wollte sie gerade den Anruf beenden, als sie doch noch eine Stimme vernahm.
»Berit Schwerzer«
Fast hätte Manuela gesagt: Rate mal, wer hier ist? Doch sie wollte ja keine Oma mit dem Enkeltrick über´s Ohr hauen, sondern von ihrer Schulkameradin eine Information erhalten.
»Hallo Berit, hier ist Manuela, geborene Knoor. Erinnerst du dich an mich?«
»Aber ja! Natürlich erinnere ich mich. Du warst ja leider nicht bei unserem Jahrgangstreffen dabei, aber es ist schön, dass du jetzt anrufst.« Berit klang ehrlich erfreut und sehr nett. Das machte Manuela Mut.
»Ja, da war ich leider verhindert«, versuchte sie sich mit einer Notlüge aus der Affäre zu ziehen. Doch Berit fragte nicht weiter nach.
»Wie geht´s dir denn so? Wo bist du gelandet?« Da Manuela mit ihrem Mobiltelefon angerufen hatte, konnte Berit nicht auf eine Vorwahl schließen.
»Mir geht es gut, ich wohne in Halle, genauer in Halle-Neustadt, bin geschieden, habe einen Sohn und eine Enkeltochter«, fasste sie kurz die wichtigsten Daten zusammen.
»Schön! Ich habe zwei Enkel«, freute sich Berit. »Aber du rufst doch bestimmt aus einem anderen Grund an. Wie kann ich dir helfen?«
Manuela fühlte sich durchschaut, aber da Berit so offen sprach, wurden ihre Hemmungen immer weniger.
»Du hast recht«, stimmte sie ihr zu, »ich suche jemanden von früher und hoffe, du kannst mir helfen.«
»Schieß los, ich werde sehen, ob ich was weiß!«
»Tja, ich wollte dich fragen, ob Kristina, damals hieß sie Schmidmann, zum Treffen gekommen ist«, begann sie vorsichtig. Doch da Berit sie nicht unterbrach, erzählte sie gleich weiter. »Eigentlich suche ich ja gar nicht Kristina, sondern ihren Onkel Karsten. Aber ich denke, sie könnte mir dann wieder weiterhelfen, wenn du ihre Telefonnummer hättest.«
»Ach so, Karsten. Das ist ja gar nicht…« Berit biss sich auf die Zunge. Nein, das sollte Karsten Manuela schon selbst erzählen, das war nicht ihre Aufgabe, sein Familiengeheimnis zu lüften. »Das ist ja gar nicht so kompliziert«, begann sie nun den Satz noch einmal. »Ich kann dir gerne die Adresse und die Telefonnummer
von Karsten geben, seine Frau ist nämlich meine Kollegin.«
Manuela hätte vor Freude laut jubeln können, aber sie hielt sich mit ihren Äußerungen zurück. »Na super! Das hätte ich jetzt nicht gedacht, dass es so einfach ist. Bin ich froh!«, brachte sie nun doch ihre Erleichterung zum Ausdruck.
Sie notierte die Adresse und die Nummer, die ihr Berit diktierte und bedankte sich noch einmal von Herzen für deren Hilfe. Jetzt hatte sie endlich etwas Greifbares in der Hand. Am liebsten hätte sie jetzt sofort bei Karsten angerufen, doch eigentlich wusste sie gar nicht, was sie ihm erzählen sollte und wo sie anfangen sollte. Und er war verheiratet, das hatte sie nun erfahren. Wie würde seine Frau reagieren, wenn sie am Telefon sein würde? Also, nur nichts über´s Knie brechen, dachte sie bei sich. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.
Die Schicht steckte Manuela noch in den Knochen, als sie schon zuhause auf dem Sofa saß. Der Feierabend hatte sich um Stunden nach hinten verschoben. Doch nun lief die Anlage wieder richtig und sie konnte endlich die Beine hoch legen.
Sie hatte sich ein Glas Weißweinschorle eingegossen, deren kühles Prickeln sie angenehm erfrischte. Schon gestern hatte sie die Nummer von Karsten in ihr Handy gespeichert. Nur nicht wieder einen Zettel ver-
bummeln! Jetzt griff sie zum Telefon und wählte den Eintrag aus. Einen Moment sah sie abwartend auf das Display, dann gab sie die Verbindung frei. Es klingelte am anderen Ende, einmal, zweimal, nach dem dritten Mal drückte sie das Gespräch weg. Anscheinend war niemand zuhause. Vielleicht sollte es heute nicht sein. Hatte es so lange gedauert, nun kam es nicht auf einen Tag an. Sie würde es wieder versuchen, soviel stand fest.
Stattdessen scrollte sie zu Kais Nummer und rief ihren Sohn an.
»Hallo Kai!«
»Hallo Mom, na, alles schick?« Manuela lächelte. Solange Kai solche lockeren Sprüche verwendete, war bei ihm wirklich alles schick.
»Ja, danke der Nachfrage. Alles im grünen Bereich!«, gab sie locker zurück. »Was macht mein Sternchen?«
»Stella sitzt gerade in der Badewanne. Da ist sie schon ganz Dame, das kann dauern!«
»Baden ist ein gutes Stichwort«, ging Manuela direkt darauf ein. »Das Wetter soll ja bis zum Wochenende noch wärmer werden. Wollen wir zum See fahren?«
»Also mir gefällt die Idee«, stimmte Kai ihr sogleich zu. »Ich glaube, wir hatten auch noch keine anderen Pläne. Ich werde es meinen beiden Frauen vorschlagen. Am Freitag melde ich mich noch mal, dann wissen wir auch, ob das Wetter passt.«
»Schön, dann einstweilen bis Freitag! Mach´s gut und gib Stella einen Kuss von mir!«
Manuela trank ihre Weinschorle aus und ließ sich Wasser in die Badewanne laufen. Was ihre Enkeltochter liebte, das mochte sie auch!
Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Tagen verlief der Donnerstag eher ruhig. So konnte Manuela mit gutem Gewissen etwas früher in den Feierabend gehen. Doch sie fuhr nicht zu ihrer Wohnung, sondern direkt in Richtung Mansfelder Land. Sie hatte sich das kurzentschlossen überlegt, nach der Devise: Jetzt oder nie! Diesmal wählte sie die Strecke über die Straße an der Saale aus. So war sie in ihrer Lehrzeit gelegentlich mit dem Bus nach Hause gefahren. In Friedeburg verließ sie die Uferstraße und folgte der Straße sanft bergan. Noch ein paar Dörfer, dann kam ein kleines Städtchen, in dem sie sich plötzlich an einen Besuch in einer Eisdiele erinnerte. Und eine Viertelstunde später erreichte sie die Stadt in der sie geboren wurde und aufgewachsen war. Noch immer empfand sie ein gewisses Unbehagen, doch längst nicht so schlimm, wie noch ein paar Tage vorher.
Am ersten Supermarkt an der Hauptstraße stellte sie ihr Auto ab. Von hier aus war es nicht weit bis zum Markt, sie konnte das Stadtzentrum bequem zu Fuß erreichen. Neben ihr plätscherte die Wipper und auf dem begrünten Uferbereich watschelten am alten, steinernen Wehrturm, im Volksmund »Zuckerhut« genannt, ein paar Enten umher. Auf der Brücke blieb sie stehen und schaute um sich. Es hatte sich schon einiges verändert. Auch wenn sie per Zeitung und Internet immer auf dem Laufenden blieb, so war es doch etwas ganz anderes, hier zu sein, zu sehen, zu fühlen. Der Markt zeigte sich bei dem schönen Frühsommerwetter von seiner besten Seite. Die Plätze im Straßencafé waren gut besucht und auch der Ratskeller lud mit Tischen und Stühlen zum Verweilen im Freien ein. Es gab ein paar Geschäfte, die sich noch immer an der gleichen Stelle befanden, andere vermisste sie. Der Fischladen war von der Bildfläche verschwunden, dafür warben gleich mehrere Mobilfunkanbieter um Kunden.
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