Manuela bummelte bis zum »Saigertor«. Sie hatte noch erlebt, wie die Straße um das mittelalterliche Stadttor herum gebaut wurde und eine erste kleine Fußgängerzone entstand. Dennoch hatte sich auch danach noch viel verändert. Aber es gefiel ihr. In einer Art kleinem Bachlauf, der von einem modernen Springbrunnen gespeist wurde, hopsten Kinder umher. Das wäre auch ein Spaß für Stella, dachte sie und lächelte. Sie lief zurück in Richtung Rathaus. Vor dem Ratskeller nahm sie an einem der Tische Platz und bestellte sich einen Kaffee. Dort drüben war einst ein Uhrmacher gewesen, erinnerte sie sich nun wieder. Und aus der Sparkasse war die Apotheke geworden. In dem Haus neben dem Kaufhaus hatte es einst einen Fleischer gegeben, nun war die Filiale einer OptikerKette eingezogen, während im benachbarten Laden gerade Umbauarbeiten im Gange waren. Vor einiger Zeit hatte sie bei Facebook eine Seite entdeckt, die Fotos von Hettstedt zeigte, oft Aufnahmen von früher und von heute. Jetzt konnte sie die Bilder vor ihrem inneren Auge nachvollziehen.
In ihrer Kindheit hatte sie die Stadt manchmal als trist und grau empfunden, vielleicht weil auch ihr Leben selbst so war. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Was auch immer sie von hier vertrieben hatte, das hier war ihre Heimat. Hier waren ihre Wurzeln. Vielleicht konnte sie auch Maria überzeugen, einmal wieder zurück zu kommen in die Heimat.
Manuela bezahlte ihren Kaffee und lief zu ihrem Auto. Sie hätte nicht sagen können, ob es bewusst geschah, jedenfalls lenkte sie den Golf in Richtung Neubaugebiet, dorthin, wo Karsten jetzt wohnte. Da es eine der zuerst gebauten Straßen war, fand sie sich problemlos zurecht und stand schon bald vor dem richtigen Haus. Hier sah es, ähnlich wie bei ihr in HalleNeustadt, jetzt wunderbar grün aus. Die vor Jahrzehnten angepflanzten Bäume hatten eine beachtliche Größe erreicht und spendeten Sauerstoff und Schatten. Zögernd ging sie langsam auf das Wohnhaus zu und blickte auf das Klingelschild. Dort, wie es aussah im ersten Stock, wohnte Karsten also. Sie holte tief Luft und drückte auf die Klingel.
Doch nichts regte sich. Keine schnarrende Stimme drang aus der Gegensprechanlage, kein Summer ertönte, kein Fenster wurde geöffnet, nichts. So einfach, wie sie es sich nach dem Telefonat mit Berit vorgestellt hatte, war es dann wohl doch nicht. Manuela überlegte. Karsten war zwar älter gewesen als sie, doch er könnte noch im Berufsleben stehen, also deshalb noch nicht zuhause sein. Sie könnten auch beim Einkaufen sein. So vieles war möglich. Er könnte jeden Moment um die Ecke kommen oder heute gar nicht mehr.
Schade, sie hatte gerade so viel Mut gehabt. Aber sie würde wieder kommen, das versprach sie sich selbst und Karsten. Auch er hatte ein Recht, endlich die Wahrheit zu erfahren. Es war nicht nur ihre Vergangenheit, sondern zumindest teilweise auch seine. Und Danielas. Vielleicht wusste sie gar nichts von ihren Wurzeln. Da lag noch ein langer Weg vor ihr.
8. Kapitel
Traumhaft schön ging die Sonne über den Gipfeln der Rieserferner-Alpen auf und tauchte das Ahrntal in ein goldenes Licht. Stefanie Hofmair trat auf den Balkon ihres Schlafzimmers und atmete tief die würzige, saubere Bergluft ein. Es war noch früh am Morgen, doch dieser Anblick erzeugte in ihr immer wieder aufs Neue ein Glücksgefühl. Hier, in Südtirol, hatte der liebe Gott die Schönheiten der Natur wahrhaftig mit dem Füllhorn ausgeschüttet. Es gab schroffe Felsen, malerisch gelegene Almen, tosende Wasserfälle, glasklare Bergseen und jede Menge Sonne, zudem ein mildes Klima, gut für Apfelplantagen und Weinberge, im westlichen Teil wuchsen sogar Palmen, und im Winter schneesichere Skigebiete in den Bergen. Berge, ja Berge mussten sein. Stefanie liebte die Berge. Dort, wo sie aufgewachsen war, im Thüringer Wald, waren diese etwas kleiner gewesen, aber auch schön. Doch nun war sie schon viele Jahre hier im nördlichsten Teil Italiens.
»Komm, reiß dich los! Wir müssen uns fertig machen!« Marco, ihr Mann trat hinter sie. Er legte ihr die Arme um die Taille und küsste sie zärtlich auf ihre Schulter. Stefanie drehte sich zu ihm um und gab ihm einen geräuschvollen Schmatzer auf die Wange. »Du hast recht.« Dann wand sie sich aus seiner Umarmung und lief in Richtung Bad.
Wenig später begaben sie sich gemeinsam auf den Weg ins Hotel Alpenstein, in dem sie beide seit einigen Jahren arbeiteten, Stefanie am Empfang und Marco im Service. Im Moment konnte man noch vom ruhigeren Teil des Jahres sprechen. Zwischen der Winter und der Sommersaison waren die Hotels selten ausgebucht. Lediglich über das letzte Wochenende hatte es wieder nur so von Touristen gewimmelt. Am Sonntag wurden auf den Bergkämmen unzählige Feuer entfacht oder auf den Almen weithin sichtbare Figuren aus brennende Feuern gebildet. Viele Menschen kamen nur, um dieses Schauspiel des » Herz-Jesu-Festes« zu bewundern. Ab Anfang Juli, wenn in Deutschland die Ferien begannen, wurde dann es wieder richtig voll.
Aber Stefanie liebte besonders den Frühling. Es schien ihr jedes Jahr wie eine Wiedergeburt, wenn die Natur erwachte. »Kein Wunder!«, hatte Marco schon kurz nach ihrem Kennenlernen bemerkt. »Schließlich bist du ja der erste Frühlingsbote!« Und wahrhaftig fiel ihr Geburtstag direkt auf den Frühlingsanfang. Nun ging der Frühling langsam dem Ende entgegen.
»Ist dir schon aufgefallen, dass wir morgen beide frei haben?«, sprach Marco seine Frau am Nachmittag an, nachdem sie wieder in ihrem kleinen Häuschen am Berghang angekommen waren. Durch die wechselnden Schichtpläne kam das gar nicht so oft vor, vor allem nicht am Wochenende. Früher hatten sie bewusst verschiedene Schichten gewählt, damit sie sich die Betreuung ihrer Kinder teilen konnten. Doch inzwischen war das nicht mehr nötig.
»Was meinst du, ein Ausflug wäre doch toll?«, fügte Marco an. Viel zu selten nahm er die Schönheit seiner Heimat bewusst wahr.
Stefanie strahlte. »Das wäre wirklich schön! Was schlägst du vor?«
»Wir könnten mit der Kabinenbahn am Speikboden bis zur Bergstation fahren und dann zur SonnklarHütte wandern oder sogar bis zum Gipfelkreuz.« Einer der schönsten Aussichtspunkte im Ahrntal lag direkt vor ihrer Haustür und war zudem bequem mit der Seilbahn zu erreichen. Er beobachtete die Reaktion seiner Frau.
»Hm, Gegenvorschlag: Wir fahren bis zur Bergstation, dann mit dem Sessellift bis Sonnklar und wandern von dort abwärts wieder bis zur Kabinenbahn.« Stefanie mochte Berge, aber weniger das Hochlaufen.
Marco machte das nichts aus, er war hier geboren und Kraxeln gewöhnt. Jetzt grinste er. Schließlich kannte er seine Frau und hatte nur damit gerechnet, dass sie nicht den steilen Weg hoch klettern wollte.
»Gut, ich lasse mich überzeugen, wir nehmen deinen Vorschlag.«
»Ob Alessia und Matteo mitwollen?«, überlegte Stefanie.
»Hallo! Unsere Kinder sind sechzehn, nicht sechs Jahre!«, gab Marco zu bedenken. Die Zwillinge waren, bedingt durch die Arbeit der Eltern, sehr selbständig und hingen längst nicht mehr an Mutters Rockzipfel.
Den Tagesausklang verbrachte das Ehepaar mit einem Glas Wein auf ihrer schönen, westwärts gelegenen Terrasse, die durch die Hanglage des Hauses bedingt, wieder einen ebenerdigen Zugang besaß. Zwar versank die Sonne im Winter schon früh hinter dem Berghang, doch jetzt, an den längsten Tagen des Jahres, konnten sie ihren warmen Schein bis zum Abend genießen. Rotgolden wurden die kleinen Wölkchen am Himmel angestrahlt und verstärkten noch die Schönheit der Natur. In der Ferne konnten sie das Plätschern des Flüsschens Ahr hören, welches dem Tal seinen Namen gegeben hatte. Obwohl hier überwiegend deutsch gesprochen wurde, verwendete Stefanie auch gerne den italienischen Namen Valle Aurina , weil sie den Klang so sehr mochte.
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