Er hielt sich nicht lange mit der Begrüßung auf, sondern erläuterte Katharina kurz und knapp den aktuellen Stand der Ermittlungen im Fall Heffner. Kurze Zeit später war Katharina darüber im Bilde, dass man von einem Mord im Affekt ausging. Gegen einen geplanten Mord sprach, dass Rainer Heffner mit seiner eigenen Weinflasche erschlagen worden war. Der Täter hatte demnach keine Tatwaffe mit sich geführt. Vermutlich war dem Mord ein Streit vorausgegangen, was auf eine Beziehungstat schließen ließ.
Tatjana Peitz, die Gerichtsmedizinerin, mit der sie häufig zu tun hatten, erwähnte in ihrem Obduktionsbericht, dass der Schlag mit der rechten Hand ausgeführt worden sei. Außerdem verwies sie darauf, dass der Täter oder die Täterin auf keinen Fall größer als Heffner gewesen sei, sonst wäre er weiter oben am Kopf getroffen worden. Zu der Frage, ob es sich beim Täter eher um einen Mann oder eine Frau handelte, hatte Tatjana keine eindeutige Aussage getroffen. Mit einer vollen Weinflasche einem anderen Menschen eine tödliche Kopfverletzung beizubringen, bedurfte es keiner außergewöhnlichen Körperkraft.
Katharina erfuhr außerdem, dass es acht Personen gab, die es näher zu überprüfen galt. Die sechs Dauercamper, ein Nachbar und ein noch nicht näher identifizierter Mann mittleren Alters, eventuell obdachlos.
»Etwas, das annähernd als heiße Spur bezeichnet werden kann, haben wir noch nicht. Auch die Durchsuchung von Heffners Wohnung hat nichts ergeben«, erläuterte KD. »Mit den Dauercampern sind am Wochenende erste allgemeine Fragen geklärt worden. Jetzt geht es darum, mehr ins Detail zu gehen. Da würde ich gerne euch«, KD sah Birgit und Jörn an, »weiter drauf ansetzen.«
Die beiden nickten, und Tim sagte: »Wir tun sicher gut daran, diesen Herrschaften intensiv auf den Zahn zu fühlen. Die Kündigung der Pachtverträge war für alle ein Schock, und sie haben auch kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie den Heffner nicht leiden konnten. Und sorry, Eva, aber vor allem Onkel Horst würde ich ganz besonders unter die Lupe nehmen.«
»Jetzt hör doch mal mit diesem Onkelquatsch auf«, fauchte Eva.
»Horst Lohoff«, sagte sie dann ruhiger, aber ihre Stimme klang, als zerrisse man ein Stück Stoff, »mag etwas aufbrausend sein, ist aber im Kern zahm wie ein Kaninchen.«
Tim machte eine beschwichtigende Geste. An Katharina gewandt sagte er: »Vielleicht weißt du es noch gar nicht, aber unter den Dauercampern befinden sich Onkel Horst und Tante Erika. Das sind ehemalige Nachbarn von Eva, und die sind erst mal per se über jeden Verdacht erhaben.« Tim wandte sich wieder Eva zu. »Ganz so harmlos kann dein Horst aber nicht sein. Sein Übergriff auf Rainer Heffner war jedenfalls keine Bagatelle, so wie Frauke Themsen und Isa Brinkmann den Vorfall beschrieben haben.«
»Wie auch immer«, schaltete KD sich ein. Er wandte sich wieder Birgit und Jörn zu. »Ihr müsst euch alle sechs vornehmen.« Er setzte sich halb auf einen Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was ist mit dem Büro?«, fragte Jörn. »Das haben wir auch noch nicht gründlich angeschaut.«
Katharina betrachtete ihren Kollegen. Sie fand es immer wieder bemerkenswert, wie stark sein süddeutscher Akzent inzwischen nachgelassen hatte. Er sei erfolgreich integriert, pflegte Jörn zu sagen. Nur seinem Kleidungsstil war er treu geblieben. Nach wie vor kam er mit Jackett und Hemd zur Arbeit.
»Da müsst ihr auf jeden Fall rein«, sagte KD. »Schaut euch auch seinen Computer an. Wenn nötig, bringt Akten und Unterlagen mit hierhin. Tim und Eva, ihr versucht euer Glück heute bei Martin Hülskamp. Er müsste ja gestern Abend von seinem Jagdausflug wiedergekommen sein. Und wenn ihr schon in Hofkamp seid, könnt ihr auch gleich noch mal zu den beiden Höfen fahren, wo ihr gestern niemanden angetroffen habt. Vielleicht kann ja von denen jemand mehr über diesen unbekannten Mann sagen oder hat ihn zumindest mal irgendwo gesehen.«
Katharina rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück nach vorne. »Und was mache ich?«, fragte sie, und eine leise Ahnung erwachte in ihr.
»Du«, sagte KD betont munter, »du stellst Recherchen zu Rainer Heffners Privatleben und seiner Vergangenheit an. Bislang wissen wir noch nicht allzu viel über ihn. Nur, dass er bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren Lehrer an einer Realschule in Rinkerode war und keine Familie hatte. Er ist früh Witwer geworden, seine Eltern leben ebenfalls nicht mehr, Geschwister hat er keine und auch sonst keine näheren Verwandten. Aber was ist mit Freunden, Nachbarn und Hobbys? Die Dauercamper erwähnten eine Mitgliedschaft in einem Wanderverein. Mit diesen Fragen kannst du erst mal anfangen.«
»Ich soll also hier im Präsidium bleiben und mich ans Telefon hängen?«
»Genau das«, bestätigte KD. »Glaubst du, ich lasse dich in deinem Zustand durch die Gegend humpeln?«
Katharina verdrehte die Augen. »Ich habe einen Kapselriss und kein amputiertes Bein.«
KD schüttelte den Kopf. »Es muss auch jemand den persönlichen Hintergrund des Opfers abklopfen, solange wir noch keinen konkreten Verdacht haben. Das ist genauso wichtig wie die Befragungen, und du bist sehr gut in dieser Art der Ermittlungsarbeit. Und was deine Verletzung angeht – ich hatte auch schon mal einen Kapselriss, da hilft nur eins: schonen, schonen, schonen.«
Corinna stand am Herd und starrte in Gedanken versunken vor sich hin. Erst als mehrere Wasserspritzer auf der heißen Herdplatte landeten und zischend verdampften, fand sie ins Hier und Jetzt zurück. Sie drehte die Gasflamme kleiner und schüttete den Inhalt einer angebrochenen Nudelpackung in den Topf. Dann öffnete sie ein Glas mit Tomatensoße. Für mehr reichte es bei ihr heute Abend nicht. Sie hatte schon um sechs Uhr am Morgen angefangen zu arbeiten, und da sich eine Kollegin krankgemeldet hatte, war sie bis 19 Uhr geblieben, anstatt schon um 16 Uhr zu gehen.
Corinna spürte, wie hinter ihren Schläfen ein leichter, ziehender Schmerz aufflackerte. Erste Anzeichen einer beginnenden Migräne. Sie hatte über viele Jahre keine Last mehr damit gehabt, aber in den letzten Monaten war es wieder häufiger vorgekommen, dass ein breites, rotes Band von Kopfschmerzen sie komplett lahmlegte. Vielleicht war es noch früh genug für einen Weidenrindentee. Gelegentlich konnte sie damit die Einnahme von Tabletten umgehen.
Sebastian hatte sie am frühen Nachmittag auf der Station angerufen, um ihr zu sagen, dass die beiden Kripobeamten wieder da gewesen waren. Über eine Stunde hatten sie mit ihm gesprochen. Morgen wollten sie mit ihr reden.
Bevor die Polizei am Samstagmorgen eingetroffen war, hatten sie und die anderen darüber diskutiert, ob sie die Kündigung der Pachtverträge und auch den Streit zwischen Horst und Rainer verschweigen sollten oder nicht. Vor allem Sebastian und Isa waren dagegen gewesen. »Lasst uns alles so erzählen, wie es war«, hatte Sebastian gemeint. »Dann besteht auch keine Gefahr, dass wir uns in Widersprüche verwickeln. Die werden im Büro sowieso alles auf links drehen, und wenn sie dann Unterlagen zu den Kündigungen und Rainers Umgestaltungsplänen finden, stehen wir noch blöder da.«
Corinna kratzte mit einem Esslöffel die Tomatensoße in einen Stieltopf und warf einen Blick auf ihre Uhr. Montagabends ging Sebastian immer zum Volleyball. Seit dem Sommer nicht nur montags, sondern auch noch freitags. Vor 22 Uhr würde er nicht zu Hause sein. »Sei doch froh, dass es nur Volleyball ist«, hatte eine Freundin zu ihr gesagt, als sie ihr von Sebastians neuen sportlichen Ambitionen erzählt hatte. »Holger hat jetzt angefangen mit Whisky-Tasting.«
Heute Abend war Corinna Sebastians Abwesenheit sehr recht. Sie brauchte etwas Ruhe, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Hatte sie das Richtige getan? Oder hatte sie den größten Fehler ihres Lebens gemacht?
Читать дальше