»Aber wirklich nur zu einer kleinen«, wurde Tim von Erika unterbrochen. »Das war gar nichts Dramatisches!« Sie blickte auffordernd in die Runde. Niemand sagte etwas, aber alle nickten zustimmend.
»Eine Stunde später, also um 19:30 Uhr, sind Sie dann auseinandergegangen«, fuhr Tim fort. »Drei von Ihnen haben anschließend den Campingplatz noch mal verlassen. Frau Brinkmann ist um kurz nach 22 Uhr vom Yoga gekommen, Herr Lohoff gegen 22:30 Uhr von seiner Skatrunde und Herr Lewandowski um 23:20 Uhr vom Volleyball. Außerdem haben Sie alle zu Protokoll gegeben, dass keiner von Ihnen Herrn Heffner nach der Versammlung noch mal gesehen oder gesprochen hat.«
Es folgte ein weiteres einvernehmliches Nicken.
Tim richtete das Wort an Erika. »Sie haben angegeben, Herrn Heffner um Viertel nach sieben gefunden zu haben.«
»Ja, es war schrecklich. Einfach schrecklich. Literweise Blut.« Erika hatte ein Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche geholt und zerknüllte es in ihren Händen. »Mir ist ganz übel geworden.« Sie sah Eva an. »Das kannst du mir glauben, Eva.«
»Es war ja auch ein furchtbarer Anblick«, bestätigte Eva. »Angefasst hast du nichts, oder?«
Erika starrte Eva mit großen Augen an. »Bist du verrückt? Ich fasse doch keinen Toten an!«
»Was wollten Sie denn so früh an der Rezeption?«, fragte Tim.
Erika musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Sie fragen das so komisch. Glauben Sie, ich hätte Rainer ermordet?«
»Oh, nein«, kam Eva Tim zuvor. »Das denkt mein Kollege nicht. Wir müssen nur diese und noch viele weitere Fragen stellen, um uns einen Überblick über das Geschehene zu verschaffen. Das ist alles reine Routine.«
Tim quittierte Evas dazwischengeworfene Bemerkung mit einem Stirnrunzeln und forderte dann Erika Lohoff mit einem Blick auf, seine Frage zu beantworten.
»Ich wollte aus dem Aufenthaltsraum meinen Schal holen. Den habe ich gestern dort vergessen. Ich habe einen Schlüssel für die Rezeption. Anschließend wollte ich mit dem Rad zum Bäcker fahren. Ohne Schal war mir das aber zu kalt, und als ich den holen wollte, habe ich den Rainer auf dem Boden liegen sehen.« Sie presste sich das Taschentuch vor den Mund. »Er hat so furchtbar ausgesehen. Ich wünschte, ich hätte nicht so genau hingeschaut. Dieser Anblick wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen.«
Eva schaltete sich wieder ein. »Ich möchte Sie jetzt alle bitten, einmal gründlich nachzudenken. Gab es etwas, das in den letzten Tagen oder Wochen ungewöhnlich war? Ist jemandem von Ihnen etwas aufgefallen?«
»Da war dieser Mann, der sich seit ungefähr zwei Wochen immer mal wieder in der Nähe des Campingplatzes herumgedrückt hat.« Dieser Hinweis stammte von Isa Brinkmann. Sie und ihre Freundin Frauke Themsen waren beide gleich alt, vierunddreißig Jahre, aber das war auch schon die einzige Gemeinsamkeit, die sie zu haben schienen. Zumindest auf den ersten Blick. Isa Brinkmann strahlte etwas Elfenhaftes aus. Anmutig hatte sie ihre langen Beine übereinandergeschlagen. Ihre Lippen umspielte ein nachsichtiges Lächeln, als ginge sie das alles hier nicht wirklich etwas an. Yoga passte auf jeden Fall hervorragend zu ihr.
Frauke Themsen war mittelgroß, breitschultrig und von kompakter Statur. Auf keinen Fall dick oder mollig, eher muskulös. Eine Sportskanone, tippte Eva. Durchbrochen wurde ihre burschikose Ausstrahlung durch ihr herzförmiges Gesicht, das sie verletzlich wirken ließ. Sie umklammerte die Hand ihrer Partnerin, als wollte sie sie nie wieder loslassen.
Frauke Themsen wandte sich an Horst Lohoff. »Du hast ihn doch mal angesprochen, und da hat er doch so seltsam reagiert.«
»Ich habe ihm was zugerufen«, bestätigte Horst Lohoff. »Ich wollte wissen, was er bei uns zu suchen hat, und da ist er auf und davon.«
»Er sah auch komisch aus«, bemerkte Erika Lohoff.
»Inwiefern komisch?«, hakte Eva mit gezücktem Kugelschreiber nach.
»Verwahrlost irgendwie. Ungepflegte, lange Haare, unrasiert und Klamotten, die auch schon mal bessere Zeiten gesehen hatten.«
»Ein Obdachloser?«, fragte Tim.
Erika zuckte mit den Schultern. »Ja, vielleicht. Auf jeden Fall war er ziemlich scheu.«
Nach einigen weiteren Fragen konnten Eva und Tim festhalten, dass alle Dauercamper den Mann in den letzten vierzehn Tagen immer mal wieder in der Nähe des Campingplatzes oder auch in der Bauernschaft gesehen hatten. Er war immer zu Fuß unterwegs gewesen, hatte eine Armeetasche dabeigehabt und hatte immer sofort das Weite gesucht, sobald man ihm nähergekommen war.
»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein? Hatte Rainer Heffner mit jemandem Probleme?« Tim sah die Dauercamper der Reihe nach an.
»Ja«, meldete sich Corinna Lewandowski zu Wort. Sie und ihr Mann Sebastian bildeten das dritte Pärchen der Gruppe und befanden sich mit Mitte fünfzig altersmäßig zwischen dem Lesbenpärchen und dem Ehepaar Lewandowski. »Es gab Ärger zwischen Rainer und unserem Nachbarn Martin Hülskamp. Das ist erst ein paar Tage her. Ich glaube, das war Montag oder Dienstag. Auf jeden Fall sind die ordentlich aneinandergeraten.«
Corinna war eine große, kräftige Frau mit einem kantigen Kinn und ausgeprägten Wangenknochen. Dennoch wirkte ihr Gesichtsausdruck nicht hart, denn in ihren Augen lag ein warmer, freundlicher Glanz. Sie hatte als Beruf Krankenschwester angegeben, und Eva konnte sich vorstellen, dass sie gut in ihrem Job war.
»Ich kam mit dem Rad vom Krankenhaus«, erklärte Corinna, »und da standen die beiden auf der Allee und schrien sich an. Martins Tochter und ein Junge aus der Nachbarschaft waren auch dabei. Martin war außer sich und riss dem Rainer ziemlich heftig an der Jacke herum. Ich bin vom Rad gesprungen und habe ihn von Rainer weggezogen. Es hätte nicht viel gefehlt, und Martin hätte zugeschlagen.«
»Um was ging es denn? Wissen Sie das?«
Corinna schüttelte den Kopf. »Nein, nicht genau. Es hatte wohl mit den Kindern zu tun. Die standen völlig verschreckt daneben. Lisa hat die ganze Zeit geweint. Martin hat dann die Kinder ins Auto bugsiert und ist abgerauscht.«
»Ich möchte zwar Martin nichts anhängen«, mischte sich nun Sebastian Lewandowski ein, »aber im Sommer gab es da auch schon mal so einen Vorfall.« Er wandte sich an Erika und Horst Lohoff. »Wisst ihr noch? Da mussten Horst und ich doch auch dazwischengehen.«
Erika nickte zustimmend. »Martin und Margret hatten aber auch wirklich ihr Päckchen zu tragen mit einem Nachbarn wie Rainer.«
»Allerdings«, bestätigte Horst. »Ich kann mich noch gut an das Theater erinnern. Rainer war aber auch ein sturer Bock.« Horst Lohoff erzählte den beiden Kripobeamten, um was es bei der Auseinandersetzung im Sommer gegangen war.
Während sich Eva und Tim diese Informationen, Namen und Adresse des Nachbarn notierten, ergriff Sebastian Lewandowski wieder das Wort. »Darf man auch mal eine Frage stellen?«
»Ja bitte«, forderte Eva ihn auf und betrachtete den Mann mit dem ernsten Gesicht und der rauchfarbenen Brille. Er war Partner einer Steuerkanzlei, die sich auf Kleinunternehmen und Handwerksbetriebe spezialisiert hatte. Außerdem, so urteilte Eva für sich, war er weder Fisch noch Fleisch. Er machte keinen unsympathischen Eindruck, hatte aber auch nichts Einnehmendes an sich.
Sebastian Lewandowski ruckelte an seiner Brille. »Wie geht das jetzt hier weiter? Rainer hat keine Angehörigen. Er hat mir mal erzählt, dass er den Platz dem Verein Wanderfreunde Münster vererben würde, wenn es bei ihm so weit ist. Aber wer kümmert sich um die Angelegenheiten vom Werseparadies , bis das alles geregelt ist? Um die Post, die Rechnungen, mögliche Reservierungsanfragen und so weiter? Nächste Woche zum Beispiel, da kommt eine Frau, die für zwei Wochen ein Mobilheim gemietet hat. Das hat Rainer am Donnerstag noch lang und breit erzählt.«
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