Bis heute Morgen hatte Eva nichts von diesem Campingplatz gewusst, obwohl er nicht mal fünf Kilometer von Münsters Innenstadt entfernt war. Um genau zu sein, hatte sie auch noch nie etwas von der Bauernschaft Hofkamp gehört, zu der der Campingplatz gehörte – wunderschön gelegen direkt am Ufer der Werse, umgeben von alten Bäumen, Feldern und Weiden.
Auf dem Weg zu der kleinen Menschenansammlung sagte Eva zu Tim: »Du siehst total erledigt aus. Warst du feiern?«
»Feiern? Ich wüsste nicht, wann ich das letzte Mal feiern war. Nein, Louis hat die ganze Nacht geschrien. Er leidet unter Blähungen. Ich sage dir, ich bin so am Ende. Ich könnte im Stehen einschlafen.«
»Es ist aber auch ein Pech, dass immer wir beide Bereitschaft haben, wenn etwas passiert.« Evas Gedanken wanderten kurz zu ihrer Kollegin und Freundin Katharina Klein, die das Wochenende mit ihrem Freund im Sauerland verbrachte. Sie hielt Tim eine Schokokugel in goldenem Alupapier hin, doch der schüttelte den Kopf. »Danke, aber so früh am Morgen kann ich noch keine Schokolade essen.«
»Nein?« Eva war erstaunt. Nach ihrer Meinung war das Genießen von Schokolade völlig unabhängig von der Tageszeit. »Das tut mir leid mit dem Kleinen. Aber toll, dass du Annkathrin unterstützt und nicht alles ihr überlässt.« Sie wickelte die Schokokugel aus und schob sie sich in den Mund.
»Das würde Annkathrin gar nicht zulassen. Da muss man sich keine Sorgen machen.«
Eva zog ihren Strickschal fester um den Hals. Es war empfindlich kalt heute Morgen. Fast so eine trockene Kälte, wie man das vom Januar kannte. Sie warf Tim einen Blick zu, der die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte und mit hochgezogenen Schultern neben ihr her stapfte. Kein Wunder, er trug nur eine dünne Jeansjacke.
Tim hatte gerade seinen dreiundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Seit vier Monaten war er Vater und im Gegensatz zu seiner Freundin, die immer einen ausgeruhten und entspannten Eindruck machte, schien Tim die neue Lebenssituation ziemlich zu schlauchen. Das muntere Glitzern in seinen eisblauen Augen hatte Eva jedenfalls schon lange nicht mehr gesehen. »Das erste von dreien«, hatte er zu Katharina und ihr gesagt, als sie im Kling-Klang auf die Geburt seines Sohnes angestoßen hatten. Eva fragte sich, ob diese Familienplanung immer noch aktuell war.
Sie erreichten die kleine Gruppe, und Eva widmete ihre Aufmerksamkeit den vier Frauen und zwei Männern, die eng beieinanderstanden und sich mit den beiden Streifenpolizisten unterhielten. Alle trugen sie gefütterte Jacken, Mützen und festes Schuhwerk. Camper halt, dachte Eva und sagte in die Runde: »Guten Morgen zusammen.«
»Moin, moin«, grüßte der ältere der beiden Polizisten und übertönte mit seiner sonoren Stimme das Gemurmel der anderen.
Eva ließ ihren Blick über die Dauercamper gleiten, und plötzlich entfuhr ihr ein kleiner Überraschungsschrei. »Onkel Horst!«
Fast zeitgleich stieß die älteste der vier Frauen, eine kleine, mollige Person in einer lila Steppjacke, einem Mann mit stattlichem Bauch in die Seite. »Das ist ja die Eva!«
»Mensch, das gibt es ja gar nicht!«, rief Eva. »Euch habe ich ja ewig nicht gesehen!«
Horst und Erika Lohoff lösten sich aus der Gruppe und schlossen Eva in ihre Arme. »Mädchen, Mädchen«, sagte Horst und schob Eva, seine großen Hände lagen immer noch schwer auf ihren Schultern, ein Stück von sich weg. »Wie lange ist das her? Zehn Jahre doch bestimmt. Bei dem sechzigsten Geburtstag deines Vaters muss das gewesen sein. Wie alt bist du jetzt? Hast du die vierzig schon geknackt?«
»Ja«, sagte Eva. »Seit dem Sommer.«
Horst zog Eva wieder an sich und drückte sie noch mal fest. »Siehst aber immer noch top aus, Evalein.« Er strich Eva über ihr schwedenblondes, langes Haar, das sie heute ausnahmsweise offen trug. Seidig und glänzend quoll es unter ihrer Wollmütze hervor.
»Ihr kennt euch?«, schaltete Tim sich ein.
»Ja. Das sind Erika und Horst Lohoff. Sie haben früher neben meinem Elternhaus gewohnt. Ich kenne sie schon mein ganzes Leben.« Eva schaute dabei Erika an, und für einen kurzen Augenblick trat in die Augen ihrer früheren Nachbarin ein schmerzlicher Ausdruck. Sie trug es immer noch in sich, stellte Eva fest, das Trauma von damals. Auch nach so vielen Jahren noch.
Genauso plötzlich war Erikas Blick aber wieder klar, und sie sagte: »Das stimmt.« Sie tätschelte Evas Oberarm. »Wir haben Eva schon als Baby im Arm gehalten, ihre ersten Laufversuche miterlebt und waren dabei, als sie kopfüber die Kellertreppe hinuntergefallen ist. Weißt du noch, Eva? Du hattest eine schwere Gehirnerschütterung.«
»Ach so«, sagte Tim. »Ich hatte schon verwandtschaftliche Beziehungen vermutet, wegen ›Onkel‹.«
»Nein, nein«, sagte Eva lächelnd. »Das ist so hängen geblieben. Nur ganz, ganz liebe Nachbarn von früher.«
Tim wandte sich an die gesamte Gruppe. »Es ist bestimmt ein großer Schock für Sie, so ein Verbrechen hautnah mitzuerleben. Für unsere Ermittlungen ist es aber wichtig, möglichst schnell Informationen über die letzten Tage und Stunden in Herrn Heffners Leben zu bekommen. Wo können wir reden?«
Die Dauercamper des Werseparadieses sowie Tim und Eva betraten hintereinander das Rezeptionsgebäude, das den Charme eines Fußballvereinsheims aus den Sechzigerjahren besaß. Fehlten nur die entsprechenden Wimpel an den holzvertäfelten Wänden. Erika Lohoff hielt ihnen die Tür zum Aufenthaltsraum auf. In dem ausgekühlten Raum hing noch ein schwacher Geruch nach Zigarettenqualm aus der Zeit, als noch drinnen geraucht werden durfte. Eva sah sich um. Theke, Tische und Stühle waren aus massiver Eiche, auf dem Fußboden lag ein abwaschbarer PVC-Belag. Die Wände, die mal weiß gewesen waren, changierten inzwischen ins Gelbe.
Die Dauercamper ließen sich an einem langen Tisch nieder. Eva und Tim nahmen an der Kopfseite Platz. Nur Erika eilte geschäftig hin und her. Zuerst drehte sie beide Heizkörper auf, dann machte sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.
Sie war noch ganz die Alte, dachte Eva, während ihr Blick Erika folgte. Immer um das Wohl aller bemüht. Als sie sich beim Eintreten an Erika vorbeigedrückt hatte, war ihr ein vertrauter Geruch in die Nase gestiegen. Eine Mischung aus Apfelshampoo, stark parfümierter Bodylotion und Waschmittel. Die Geruchserinnerung hatte umgehend sorgsam verwahrte Bilder einer glücklichen Kindheit in Evas Kopf heraufbeschworen. Warme Sommerabende. Grillwürstchen, die auf einem Holzkohlegrill vor sich hin brutzelten, und Erwachsene, die sich keinen Deut darum scherten, was ihre Kinder trieben.
Mit diesen Erinnerungen hing allerdings auch jener Winter zusammen, der für Erika und Horst die Welt auf einen Schlag verändert hatte.
Eva schaute zu Horst hinüber, der zu ihrer Linken saß. Er war ein paar Jahre älter als Erika und musste jetzt ungefähr dreiundsiebzig sein. Diesen enormen Bauch hatte er schon gehabt, seit sie denken konnte. Aber er war trotzdem immer wendig und agil gewesen. Jetzt wirkte er schwerfällig und bewegte sich so, als hätte er Probleme mit den Knien. Sein Doppelkinn zitterte, wenn er sprach, und seine Gesichtsfarbe zeugte eindeutig von zu hohem Blutdruck.
Als Erika alle mit Kaffee versorgt und sich gesetzt hatte, begannen sie mit ihren Fragen.
Eine Viertelstunde später schaute Tim von seinen Notizen auf. Neben den Personalien und den Angaben zu ihren Berufen hatte er stichpunktartig festgehalten, was die Campingplatzbewohner bis jetzt auf ihre Fragen geantwortet hatten. »Ich fasse noch mal zusammen. Gestern Abend um 18:30 Uhr gab es hier eine kleine Versammlung, auf der Ihnen Herr Heffner mitgeteilt hat, dass er Ihre Pachtverträge kündigen wird. Daraufhin kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Herrn Lohoff und Herrn Heffner …«
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