»Ich noch nie in meinem Leben dem Staat auf der Tasche gelegen!«, schrie Horst in einer Lautstärke, dass es in Rainers Ohren zu klingeln begann. »Da fange ich doch jetzt nicht damit an, nur weil so ein Hanswurst wie du meint, den großen Affen markieren zu müssen!« Seine Hand umklammerte Rainers Hals fester.
»Horst«, jammerte Erika.
Rainer versuchte vergeblich, Horsts Finger aufzubiegen, aber Horst verstärkte seinen Griff daraufhin nur. Aus Rainers Mund kam nur noch ein Röcheln.
»Hör auf! Lass ihn los! Du bringst ihn ja um!« Erika war zu ihrem Mann hinübergehastet und zerrte an seinem Arm.
Horst hatte wieder angefangen zu brüllen. »Ich bring dich um! Ich mach dich kalt!«
»Sebastian«, rief Erika kläglich über ihre Schulter, »komm her! Du musst mir helfen! Er ist ja nicht mehr bei Sinnen!«
Nicht nur Sebastian, alle sprangen sie auf und mit vereinten Kräften brachten sie Horst dazu, von Rainer abzulassen.
Sobald Rainer befreit war, beugte er sich vornüber und stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab, wie ein Hundert-Meter-Läufer im Ziel. »Der ist ja komplett irre«, stieß er hervor. »Der wollte mich umbringen!«
Horst hatte sich abgewandt und schlurfte mit hängenden Schultern zurück zum Tisch. Dort ließ er sich auf seinem Stuhl nieder, der unter seinem Gewicht gefährlich ächzte. Er griff nach seiner Bierflasche und leerte sie in einem Zug.
Sebastian und Corinna brachten Rainer, der unablässig mit einer Hand über seinen Kehlkopf fuhr, ebenfalls zum Tisch zurück. Isa rückte ihm, in gebührenden Abstand zu Horst, einen Stuhl zurecht. Niemand sonst setzte sich. Unschlüssig blieben sie zwischen den beiden Männern stehen, als wären sie nicht sicher, ob der Streit tatsächlich vorbei war.
Horst hielt seine leere Bierflasche im Schoß und hatte den Kopf gesenkt. Seine Wut war verflogen. Corinna reichte Rainer ein Glas Wasser. Er trank einige Schlucke und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Ich habe bestimmt eine Kehlkopfquetschung.«
»Du hast ganz bestimmt keine Kehlkopfquetschung«, widersprach Corinna. »In dem Fall könntest du nicht so deutlich sprechen.«
»Wenn Sie das sagen, Frau Doktor. Aber ihr habt es alle gesehen, oder? Der wollte mich umbringen. Um ein Haar wäre ich erstickt.«
»Jetzt mach mal halblang«, sagte Sebastian. »Horst hätte dich schon nicht erwürgt.«
»Eiskalt gekillt hätte der mich.«
Erika hatte sich hinter Horst gestellt und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Ihre Apfelbäckchen glühten noch röter als sonst. »Das ist Quatsch. Horst kann keiner Fliege was zuleide tun. Du hast ihn zur Weißglut getrieben, Rainer, mit deinem Gerede.«
Rainer schnaubte verächtlich. »Jetzt bin ich auch noch selber schuld, dass der Verrückte mich umbringen wollte, oder was?«
Horst erhob sich schwerfällig und sofort schnellte auch Rainer von seinem Stuhl hoch. Noch mal würde er sich nicht so überrumpeln lassen. Doch Horst kümmerte sich nicht um Rainer. »Erika! Wir gehen!« Er steuerte auf die Tür zu. Erika folgte ihm beflissen.
Rainer rief ihnen nach: »Das wird ein Nachspiel haben, Horst, das schwöre ich dir!« An die Übriggebliebenen gewandt sagte er: »Die Party ist zu Ende. Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.« Mit diesen Worten begann er damit, die Flaschen und Gläser einzusammeln.
»Willst du es dir nicht noch mal überlegen?« Sebastian hatte nach seiner Jacke gegriffen.
»Nach dem Auftritt von Horst gerade? Der kann froh sein, wenn ich ihn nicht gleich morgen vom Platz jage.«
»Ach, komm, du kennst doch Horst. Der ist ruckzuck auf hundertachtzig und genauso schnell fährt er wieder runter. Wir könnten ja mal zusammen darüber nachdenken, ob wir etwas mehr an Pacht bezahlen.«
»Keine Chance. Ich habe mir das alles gut überlegt und durchgerechnet. Den Platz im Winter für sechs Dauercamper offenzuhalten, ist absolut unwirtschaftlich. Hinzu kommt, dass ich mir das mit den Mobilheimen in den Kopf gesetzt habe.« Rainer ging hinüber zur Theke. Als er sich umdrehte, stand Sebastian immer noch auf demselben Fleck. »Meine Güte, Sebastian. Das Werseparadies ist doch nicht der einzige Platz rund um Münster. In Handorf gibt es auch einen, der direkt an der Werse liegt und sehr schön sein soll.«
Sebastians Gesichtszüge verhärteten sich. »So etwas wie dies hier gibt es kein zweites Mal.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Auch Corinna und Isa hatten den Aufenthaltsraum bereits verlassen, nur Frauke stand noch mitten im Raum und nestelte umständlich am Reißverschluss ihrer Jacke herum. Rainer kam mit einem feuchten Spüllappen zum Tisch zurück.
»Weißt du, Rainer«, sagte Frauke. »Eigentlich hätten wir ja mit so etwas rechnen müssen. Du hast ja keine Gelegenheit verpasst, uns spüren zu lassen, dass du keine Lust auf Dauercamper hast. Aber da ist auch immer noch etwas anderes gewesen. Etwas Subtileres, weniger greifbar als deine Ablehnung uns gegenüber.«
Rainer wischte mit dem Lappen über den Tisch. »Ach ja?« Er machte sich nicht die Mühe hochzublicken.
»Wir hatten hier wirklich eine schöne Zeit alle miteinander. Aber seitdem du den Platz übernommen hast, hat sich die Atmosphäre verändert. Als hätte deine schlechte Aura auch auf uns abgefärbt.«
Rainer, der versuchte, einen hartnäckigen, klebrigen Rand wegzubekommen, schaute nun doch auf. Er fixierte die junge Frau aus zusammengekniffenen Augen. Mit bedrohlich leiser Stimme sagte er: »Ich bin ganz bestimmt ein anderer Typ als es euer Kuschelwalter war und führe den Platz auf eine andere Art. Aber du kannst mich nicht für alles verantwortlich machen, was sich hier auf dem Platz abspielt. Da machst du es dir etwas zu einfach. Für die Untreue anderer Leute kann ich nun wirklich nichts.«
Seine Worte zeigten unmittelbar Wirkung. Fraukes Gesicht verlor alle Farbe. Sie machte Anstalten, etwas zu erwidern, schloss den Mund aber wieder und wandte sich zum Gehen.
Oh, dachte Rainer, da hatte er wohl mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen. Selbstgefällig sah er hinter Frauke her, die sich an der Tür noch mal umdrehte.
Ihre Stimme klang spröde, als sie sagte: »Das wird alles auf dich zurückfallen, Rainer, pass gut auf dich auf.«
Eine Stunde später schloss Rainer die Tür der Rezeption sorgfältig ab. Er hatte im Büro noch ein paar fällige Rechnungen überwiesen und Angebote für die Neugestaltung der Rezeption verglichen. Vor allem mit dem Aufenthaltsraum musste bis zum nächsten Saisonstart unbedingt etwas passieren. Aber die Angebote waren ihm allesamt überteuert vorgekommen. Da musste er wohl noch mal nachverhandeln.
Beim Abschließen achtete er darauf, dass ihm die Rotweinflasche, die er sich unter den Arm geklemmt hatte, nicht wegrutschte. Ein gemütliches Freitagabendschlückchen auf der Couch, das hatte er sich wirklich verdient. Wenn man von Horsts Ausbruch absah, war es alles in allem gut über die Bühne gegangen. Jetzt konnten sie alle erst mal eine Nacht darüber schlafen – und dann würde sich morgen die Aufregung schon wieder gelegt haben.
Als er sich seinem Fahrrad zuwandte, das vor einer Anpflanzung üppiger Rhododendronbüsche in einem Fahrradständer stand, hielt er inne. Er war sich sicher, hinter dem Buschwerk eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Angestrengt blickte er in die Richtung, bis seine Augen anfingen zu tränen und er blinzeln musste. Er war seit sechs Uhr auf den Beinen, vielleicht hatte sein übermüdeter Geist ihm auch nur einen Streich gespielt. Doch als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hatte er keine Zweifel mehr: Da stand jemand. Er erkannte die Person nicht, und es war unmöglich zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, ob jung oder alt. Warnend meldete sich eine Stimme in seinem Kopf:
Geh zurück ins Haus. Sofort. Da drüben ist jemand, der keine guten Absichten hat .
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