»Horst!« Erika Lohoff zupfte am Pulloverärmel ihres Mannes.
»Was denn, Erika? Hast du verstanden, was der Idiot gerade gesagt hat? Er will uns vom Platz schmeißen. Nach über zwanzig Jahren sollen wir unseren Stellplatz räumen!« Horst starrte Rainer über den Tisch hinweg an. »Das werden wir nicht zulassen! Das kann ich dir versprechen! Ich verschwinde hier nicht freiwillig!«
Rainer hob beschwichtigend die Hände. Er war ein großer, athletischer Mann, mit einem länglichen, von Sonne und Wind gezeichneten Gesicht. Sein immer noch volles Haar war eisgrau, genauso wie der kurz gestutzte Vollbart. Wie immer trug er eine Cargohose, Trekkingschuhe und einen Fleecepullover mit Reißverschluss. Auf den ersten Blick wirkte Rainer wie ein sympathischer Naturbursche in den Sechzigern. Tatsächlich hatte er im April seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. »Du hast offenbar nicht richtig zugehört, Horst. Ich schmeiße euch nicht vom Platz. Ich biete euch andere Stellplätze an, die ihr im Sommer nutzen könnt.«
»Ja, schönen Dank auch.«
Rainer nahm seine Brille ab und begann sie umständlich zu putzen. »Wie ich schon sagte, ich will das Konzept des Campingplatzes verändern. Er wird nur noch von März bis Oktober geöffnet haben. Weniger Wohnwagen und Zelte, dafür mehr Mobilheime. Eure drei Stellplätze sind prädestiniert dafür. Es sind die größten auf dem Platz und liegen direkt an der Werse. Ich wäre ja bescheuert, das nicht zu nutzen.« Während er sprach, fand Rainer zu seiner alten Selbstsicherheit zurück. Er war nun mal der Eigentümer des Campingplatzes und konnte tun und lassen, was er wollte. Horst plusterte sich sowieso bei jeder Gelegenheit auf wie ein Hahn im Hühnerhof. Das musste man nicht weiter ernst nehmen. Er setzte die Brille wieder auf.
Horst gab ein Schnaufen von sich. Bevor er aber etwas sagen konnte, fiel ihm Sebastian Lewandowski ins Wort. »Aber warum setzt du die Mobilheime nicht dahin, wo die anderen stehen? Das macht doch viel mehr Sinn. Dann ist das wie eine kleine Siedlung.«
Rainer musterte Sebastian und dessen Frau Corinna abschätzig. Ein Paar mittleren Alters. Er, selbstständiger Steuerberater und ein Klugscheißer vor dem Herrn. Sie, Krankenschwester, bei der die Gefahr, sie könnte jemals mit einem Halbgott in Weiß durchbrennen, gegen Null tendierte. »Ich möchte aber«, Rainer sprach zu Sebastian in einem Ton, als würde er einem uneinsichtigen Erstklässler zum hundertsten Mal etwas erklären, »die neuen Mobilunterkünfte nun mal am Wasser haben. Schluss. Aus. Ende.«
»Aber du kannst uns doch nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen«, meldete sich Corinna zu Wort. Zwischen ihren viel zu dichten Augenbrauen bildete sich eine steile Falte.
Sie sollte nicht so ein Gesicht machen, dachte Rainer. Es machte sie älter und auch nicht unbedingt attraktiver.
»Kannst du uns überhaupt so einfach kündigen? Es gibt ja schließlich auch Fristen. Vor allem im Fall von Horst und Erika. Die haben ihren Platz ja schon so lange.« Corinna strich sich eine Strähne ihres aschblonden Haares hinter das Ohr.
Rainer seufzte. »Glaubt ihr denn, ich hätte mich nicht vorher abgesichert? Als ich den Platz vor einem Jahr übernommen habe, habe ich mir die Pachtverträge genau angeschaut. Walter Steinkötter hat in jeden Vertrag eine Klausel aufgenommen, nach der die Kündigungsfrist für beide Seiten drei Monate beträgt und zwar unabhängig von der Laufzeit des Vertrages.«
»Walter hätte uns niemals gekündigt«, murmelte Erika vor sich hin und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Niemals.«
»Ich muss auch sagen, Rainer, dass deine Entscheidung eine riesige menschliche Enttäuschung für mich ist«, ließ Frauke verlauten, und Isa, ihre Partnerin, fixierte ihn mit einem schwer zu deutenden Blick. »Du hast dich zwar hier von Anfang an aufgeführt wie ein kleiner König, aber das hätte ich dir nun doch nicht zugetraut.«
Rainer stieß Luft zwischen seinen Zähnen hervor. Frauke, dieses Mannsweib, war ihm schon zu Beginn auf die Nerven gegangen. Vorlaut und ruppig. Eine Kampflesbe. Isa, dieses bildhübsche Ding mit Modelfigur, konnte nicht ganz gescheit sein, sich an so eine Frau zu hängen. »Mein Gott, ihr tut so, als ob ihr alle im kommenden April auf der Straße stehen würdet. Nun macht aber mal einen Punkt! Es ist jetzt Mitte November. Gekündigt habe ich euch zum 31.3. des kommenden Jahres. Ihr habt also jetzt viereinhalb Monate Zeit, euch was Neues zu suchen. Das sollte doch wohl reichen. Ihr vier«, Rainer zeigte nacheinander auf Sebastian, Corinna, Frauke und Isa, »ihr verdient doch gutes Geld. Ihr könntet euch doch sonst was leisten, nachdem ihr jetzt ein paar Jahre so günstig gewohnt habt.«
Ein lautes Krachen ließ die Gruppe zusammenfahren und die Bierflaschen und Weingläser leise klirren. Diesmal war es Sebastian, der seine geballte Faust auf den Tisch hatte sausen lassen. Als er anfing zu sprechen, zitterte seine Stimme vor unterdrückter Wut. »Du hast überhaupt nichts verstanden, Rainer! Es geht uns doch nicht ums Geld! Es geht uns um das Lebensgefühl! Wir fühlen uns in einer Wohnung nicht wohl. Natürlich könnten wir uns eine schicke, große Wohnung leisten. Aber das wollen wir gar nicht! Was wir wollen, ist das Campingfeeling. Und zwar das ganze Jahr durch. Uns reichen der Wohnwagen und das Vorzelt. Mehr brauchen wir nicht. Wir wollen diese Idylle hier und nicht eine Wohnung oder ein Haus. Das haben wir alles gehabt.«
Rainer schaute Sebastian überrascht an. So emotional hatte er den Steuerberater noch nie erlebt. Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Verstehe ich nicht.« Er sah zu Frauke und Isa hinüber. »Am allerwenigsten übrigens bei euch beiden. Ihr seid doch noch jung. Ihr wollt doch bestimmt noch mal etwas anderes, als auf einem Campingplatz leben.«
»Was wir wollen oder nicht, muss dich doch gar nicht interessieren«, fauchte Frauke. »Im Moment wollen wir auf diesem Campingplatz leben und wenn wir es nicht mehr möchten, dann sagen wir Bescheid!«
Während Frauke redete, war Horst aufgestanden und einmal um den Tisch herum auf Rainer zugegangen. Seine Hände fuhren unablässig an der Naht seiner Hose auf und ab. Rainer sah Horst misstrauisch an. Das mulmige Gefühl von vorhin kehrte zurück. Horst brachte locker hundertzwanzig Kilo auf die Waage – und er war jähzornig. Rainer hatte ihn im Sommer ein paar Mal im Clinch mit anderen Campinggästen erlebt. Man tat gut daran, Horst Lohoff nicht zu reizen. »Was dich und Erika angeht«, versuchte Rainer Horst deshalb zu beschwichtigen, »so gibt es staatliche Unterstützung, wenn die Rente nicht reicht. Wohngeldzuschuss nennt sich das.«
»Wir wollen in keine Wohnung!«, brüllte Horst. »Kapierst du das nicht? Wir sind Camper!!«
»Horst, denk an deinen Blutdruck«, flehte Erika.
Doch Horst interessierte sich im Augenblick kein bisschen für seinen Blutdruck. Er legte eine Hand auf Rainers linke Schulter und drückte fest zu.
Rainer schnappte vor Schmerz nach Luft. »Hör auf damit!«, keuchte er. »Du tust mir weh.«
Horst beugte sich zu Rainer hinunter. Sein Atem roch nach Bier. »Das ist mir scheißegal, ob dir das wehtut. Frauke hat recht. Du hast von Anfang an so getan, als wärst du sonst wer. Und jetzt meinst du, du kannst uns einfach vor vollendete Tatsachen stellen und wir nicken brav dazu?«
Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß Rainer hervor: »Wenn ihr unbedingt euer Leben als Dauercamper fristen wollt, dann sucht euch doch einen anderen Cam…« Weiter kam er nicht.
Horst riss ihn an der Schulter auf die Füße, schleifte den überrumpelten Besitzer des Werseparadieses quer durch den Raum bis zur gegenüberliegenden Wand und drückte ihn unsanft dagegen. Dann ließ er Rainers Schulter los, umfasste aber dafür seinen Hals. Das alles geschah in einer Geschwindigkeit, die niemand Horst zugetraut hätte. Sprachlos starrten alle die beiden Männer an.
Читать дальше