Batman rümpfte seine Nase. Heute lag im Inneren der Fabrikhalle noch etwas anderes in der Luft. Ein furchtbarer Gestank, der ihnen entgegenschlug wie ein unfreundlicher Willkommensgruß. »Iiiii!« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Was ist das? Das stinkt ja hier wie … wie … wie zehn Stinkbomben auf einmal!«
Damit hatte er recht. Der Gestank nach faulen Eiern war betäubend.
Die Halle bestand nur aus zwei Räumen. In dem ersten, in dem sie jetzt standen, waren früher die Steinplatten hergestellt und gelagert worden. Jetzt war der weitläufige Raum leer, bis auf eine vergessene Schaufel, einen Haufen zerlumpter Leinensäcke und einige leere Getränkeflaschen. Strom gab es natürlich keinen mehr. Es fiel aber genug Licht durch die kaputten Fenster und die Löcher im Dach.
»Hier hat sich aber auch gar nichts verändert, seit wir das letzte Mal hier waren«, meinte Batman.
»D-d-das st-st-simmt. A-a-außer d-d-dem G-gestank.«
»Wo das wohl herkommt?« Zorro sah sich suchend um. Sein Blick fiel auf einen Bretterverschlag. Das war der zweite Raum, den es hier gab. Die Lemkebrüder hatten in eine Ecke der Fabrikhalle zwei Wände aus Sperrholz eingezogen und den auf diese Weise entstandenen Raum als Büro genutzt. Zorro ging zu dem Bretterverschlag hinüber. Der Gestank nahm zu, und ihm wurde ein wenig übel davon. In die schmalere der beiden Holzwände war eine Tür eingelassen. Zorro drückte die Klinke nach unten, aber sie öffnete sich nicht. Sindbad und Batman waren ihm gefolgt.
»D-d-da st-st-eckt e-e-ein …« Während er sprach, deutete Sindbad auf den rostigen Schlüssel, der von außen in der Tür steckte, und an dem ein rotes Plastikschild mit der Aufschrift Büro baumelte.
»Ja, ich sehe es«, fiel Zorro Sindbad ins Wort. Er hatte selten die Geduld, seinen Kumpel aussprechen zu lassen. »Da steckt ein Schlüssel«, vollendete er deshalb den Satz und drehte gleichzeitig den Schlüssel um. Er stieß die Tür auf, und fast gleichzeitig schnappten alle drei Jungs nach Luft. Der Gestank nach Fäulnis und verrottendem Fleisch war jetzt unerträglich. Batman gab ein würgendes Geräusch von sich, drehte sich auf dem Absatz um und stürzte zum Ausgang.
Zorro und Sindbad hatten reflexartig ihre Hände vors Gesicht geschlagen. Sie hielten sich die Nasen zu und atmeten durch den Mund.
»Jetzt wissen wir wenigstens, woher der Gestank kommt«, murmelte Zorro mit nasaler Stimme und spähte in den kleinen Raum.
In den beiden Außenwänden war jeweils ein Fenster eingelassen. Durch die zersplitterten Scheiben drang diffuses Tageslicht.
An das ehemalige Büro erinnerte nichts mehr. Abgesehen von einigen fest an der Wand verschraubten Regalbrettern war der Raum leer. Fast leer. Denn in einer Ecke lag ein dunkles Bündel. Zorro spürte, wie seine Handflächen feucht wurden und ihm ein kalter Schauer über die Wirbelsäule kroch. Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob er wissen wollte, was es mit dem Gestank auf sich hatte. Trotzdem machte er zwei Schritte nach vorne. Es war wie bei einem Verkehrsunfall – man will nicht hinsehen und doch kann man nicht anders.
Zorro erkannte Reste von schwarzem Fell, vier Beinen und einem Kopf. Eine Katze! Der Körper war eingefallen, der Verwesungsprozess in vollem Gang. Das war zu viel für Zorro, den grenzenlosen Tierfreund und stolzen Besitzer von vier Meerschweinchen, zwei Zwergkaninchen und einem Wellensittichpärchen. Er wirbelte herum, stieß gegen Sindbad und schrie: »Scheiße! Verdammte Scheiße!«
Sindbad starrte seinen Anführer erschrocken an.
Zorro deutete auf die verendete Katze. »Jemand hat diese Katze eingeschlossen und verhungern lassen!« Mit diesen Worten stürzte er aus dem Bretterverschlag. Sindbad folgte ihm auf den Fersen.
Draußen lehnte sich Zorro an die Hauswand. Sein Gesicht war so weiß wie ein Fischbauch.
»Wer macht denn so was?«, fragte Batman betroffen, nachdem Zorro ihn über die Ursache des Gestanks aufgeklärt hatte. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in das Geäst der Tannen, als könnte er dort die Antwort finden.
Mit bebender Stimme sagte Zorro: »Es gibt halt solche Schweine.«
»V-v-vielleicht war sie schon t-t-t-tot, b-b-bevor sie …«, begann Sindbad.
»… bevor sie dort eingesperrt wurde?«, beendete Zorro die Frage. »Das glaube ich nicht. Wer sperrt schon eine tote Katze ein. Nein, irgendein Superarschloch hat sie hier reingelockt, eingesperrt und verhungern lassen. Ganz bestimmt ist das so gewesen.« Zorro spuckte auf den Boden. Dann lehnte er den Kopf nach hinten und schloss die Augen.
Seine Freunde betrachteten ihn beunruhigt. Er würde ja wohl nicht anfangen zu heulen?! Klar, wenn jemand die Katze lebendig in das Kabuff gesperrte hatte, dann war das natürlich schrecklich. Aber wurden nicht auch täglich Katzen überfahren? Andererseits ging ihr Tod dann wohl deutlich schneller vonstatten.
»S-s-s-sollen w-w-wir sie b-beerdigen?«, schlug Sindbad vor.
Zorro öffnete die Augen. »Das ist eine gute Idee, Sindbad. Du bist ein guter Mann!«
Sindbads Wangen färbten sich zartrosa. Es kam nicht oft vor, dass jemand ihn für etwas lobte.
»Die Schaufel in der Halle!«, rief Batman, der in der Gunst ihres Anführers nicht zurückstehen wollte. »Damit können wir ein Grab ausheben.«
Eine Dreiviertelstunde später war alles vorbei. Die sterblichen Überreste der unglückseligen Katze lagen keine zehn Meter von der Fabrik entfernt unter der Erde. Batman und Sindbad hatten ein Loch direkt unter einer gewaltigen Tanne ausgehoben. Zuerst mussten sie sich durch eine nicht enden wollende Schicht aus Tannennadeln arbeiten. Dafür war der Boden darunter aber locker und weich gewesen. Zorro hatte sich indessen seinen Schal um Mund und Nase gebunden und war in das Haus zurückgekehrt. Mit Hilfe von einem der alten Leinensäcke hatte er die Katze, beziehungsweise das, was von ihr noch übrig war, nach draußen transportiert.
Als sie die Grube wieder geschlossen hatten, blieben sie eine Weile schweigend an dem Katzengrab stehen.
Sindbad war es, der das Schweigen brach. »I-ich h-h-hab’s! W-w-wir b-buddeln a-a-auch f-für Mr. X e-e-e-ein …«
In Zorros Augen glomm ein Leuchten auf. Er haute Sindbad kameradschaftlich auf die Schulter. »Mensch, Sindbad, heute ist wohl dein Tag! Na klar! Wir schaufeln ihm ein Erdgefängnis und sperren ihn darin ein. Da kann er dann darüber nachdenken, ob er weiterhin so fies zu uns sein will.«
»Klasse!«, stimmte Batman zu. »Und verschließen können wir das unterirdische Verlies mit Steinplatten, die hier herumliegen. Dann kann er auch nicht türmen.«
Zorro sah seine Mitstreiter zufrieden an. »Ich habe wirklich eine tolle Bande«, sagte er feierlich.
2019
Als Rainer Heffner seine kurze Ansprache beendet hatte, herrschte im Aufenthaltsraum des Campingplatzes Werseparadies brodelndes Schweigen. Sechs Augenpaare starrten ihn auf eine Weise an, die es ihm unmöglich machte, aufzustehen und die Runde aufzulösen.
Entscheidung mitteilen, Begründung nachschieben, Ende der Diskussion. So war sein Plan gewesen. Doch ganz so einfach würde es wohl nicht werden. Vielleicht hätte er den Dauercampern die Kündigung ihrer Stellplätze besser einzeln beibringen sollen. Er wich ihren stummen Blicken aus und schaute zum Fenster hinüber. Kompakte Dunkelheit drückte sich von außen dagegen und verstärkte Rainers Gefühl, etwas losgetreten zu haben, das jetzt und hier außer Kontrolle geraten könnte.
Diese Ahnung wurde zur Gewissheit, als Horst Lohoff seine riesigen Pranken auf den Tisch knallte und damit die Stille zum Platzen brachte. Er hievte sich hoch. Das Gesicht so dunkelrot wie eine überreife Tomate. »Was hast du gerade gesagt?! Du kündigst uns die Stellplätze? Du aufgeblasener kleiner Dorfschullehrer, du …«
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