Die Tomatensoße fing an, Blasen zu werfen. Corinna nahm den Topf vom Herd, goss die Nudeln ab und füllte eine kleine Portion Spaghetti auf den Teller. Eigentlich hatte sie gar keinen Hunger. Sie würzte die Soße mit etwas Oregano und schwarzem Pfeffer aus der Mühle. Mit dem Teller in der einen und dem Teebecher in der anderen Hand verließ sie den Wohnwagen und machte es sich in der Sitzecke des Vorzelts gemütlich.
Als sie ihren Freunden und Bekannten von ihren Plänen erzählt hatten, auf einen Campingplatz ziehen zu wollen, war die erste Frage immer gewesen: Habt ihr keine Angst zu frieren? Corinna musste immer schmunzeln, wenn sie daran dachte. Wenn sie eins nicht taten, dann war das frieren. Wozu gab es elektrische Heizkörper?
Um sich abzulenken, stellte Corinna den Fernseher an. Sie stocherte lustlos in ihren Spaghetti herum und verfolgte mit halber Aufmerksamkeit die ersten Szenen des Krimis, der gerade angefangen hatte.
Es war nicht richtig gewesen, was sie getan hatte. Das wurde ihr mehr und mehr klar. Und jetzt wusste sie nicht, was sie tun sollte.
Katharina verbrachte den langweiligsten Tag in ihrer bisherigen Laufbahn als Kommissarin. Sie saß allein in dem schuhschachtelgroßen Büro, das sie sich mit Eva teilte. Ein schmuckloser Raum, in dem eine Yuccapalme seit Jahren verzweifelt ums Überleben kämpfte.
Als Erstes rief Katharina einige Nachbarn aus dem Mehrfamilienhaus in Gremmendorf an, in dem Heffner in einer Eigentumswohnung gewohnt hatte. Die Meinungen über Rainer Heffner waren einmütig. Unauffällig, höflich und zuverlässig. Ein angenehmer Nachbar. Und wie schrecklich, was mit ihm passiert war! Unfassbar! Man habe es heute Morgen in der Zeitung gelesen. Nein, nie habe es Ärger mit dem Herrn Heffner gegeben. In den ganzen dreißig Jahren nicht. Immer war man sich über Dinge wie regelmäßiges Putzen des Treppenhauses, Einhaltung der Ruhezeiten, kein Grillen auf dem Balkon und pünktliches Herausstellen der Mülltonnen einig gewesen. Wo er vorher gewohnt habe? In Rinkerode. Ob man jemals wieder so einen Nachbarn bekommen würde, das sei ja wohl die große Frage.
Nach dem vierten Gespräch dieser Art gab Katharina auf. Alle miteinander der gleiche Schlag wie Heffner, dachte Katharina. Kein Wunder, dass es da keine Probleme gab.
Als Nächstes telefonierte Katharina mit Rolf Uhlenbrock, dem zweiten Vorsitzenden des Wandervereins Münster. Bei Herrn Uhlenbrock handelte es sich um einen aufgeschlossenen, redseligen Herrn von sechsundsiebzig Jahren, wie er Katharina gleich im dritten Satz verriet. »Schlimm, schlimm, was mit dem Rainer passiert ist«, sagte er. »Wir können das hier alle noch gar nicht fassen.«
»Das glaube ich Ihnen gerne«, versicherte Katharina. »Was war denn der Herr Heffner für ein Typ?«
»Ach, der Rainer, wie soll ich das sagen … er war schon in Ordnung …« Rolf Uhlenbrock machte eine kurze Pause. »Er war unser Kassierer, und er hat das wirklich gut gemacht. Nein, das kann man gar nicht anders sagen. Tipptopp hat er das gemacht. Er war da sehr genau. Als er das Amt übernommen hat, da waren unsere Finanzen Kraut und Rüben. Sein Vorgänger, der hat mächtig geschludert, aber der Rainer, der hatte das im Griff.«
»Und sonst?«, hakte Katharina nach, der nicht entgangen war, dass Herr Uhlenbrock Hemmungen hatte, etwas Negatives über den Verstorbenen zu sagen.
»Na ja, er war ein bisschen anstrengend auf seine Art. Sehr pedantisch, so will ich es mal sagen. Einige von uns nannten ihn, hinter vorgehaltener Hand, einen Korinthenkacker. Er bremste Ideen, Vorschläge und Änderungen gerne aus, mit dem Hinweis, wir hätten nicht die Mittel dazu. Aber oft stimmte das gar nicht. Er wollte bloß keine Veränderungen. Und er war immer sehr von sich und seinem Tun überzeugt.«
»Gab es ernsthafte Konflikte mit ihm?«
»Nein, so würde ich das nicht sagen. Es war einfach seine Art, erst mal seine Bedenken anzumelden und überall Probleme zu sehen. Aber letztendlich kam er nie weit damit. Wir haben hier bei uns im Vorstand so einige Alphatiere, gegen die hatte Rainer gar keine Schnitte. Ich hatte immer den Eindruck, er wollte sich einfach wichtigmachen, wenn er dann aber niedergebügelt wurde, dann hat er das sportlich genommen. Er musste einfach immer erst mal was zu meckern haben, wenn er das losgeworden war, gab er auch wieder Ruhe.«
Katharina plauderte noch eine Weile mit dem netten Herrn Uhlenbrock. Als er anfing, ihr von seiner letzten Wandertour auf Korsika zu erzählen, lenkte sie das Gespräch geschickt dem Ende entgegen. Im Wanderverein Münster, davon war Katharina überzeugt, lag die Antwort auf die Frage, wer Rainer Heffner erschlagen hatte, nicht verborgen.
Beim Verabschieden sagte Herr Uhlenbrock allerdings etwas Unerwartetes. »Manchmal hat mir der Rainer ein bisschen leidgetan.«
Sofort war Katharina wieder bei der Sache. »Inwiefern?«
»Der hat seine Frau bei einem schweren Verkehrsunfall verloren. Das hat er mir erzählt, als er ausnahmsweise mal ein Bierchen zu viel getrunken hatte. Das ist schon dreißig Jahre her. Der Unfall, meine ich. Ich glaube, das war 1989. Oder war es 1990? Ich erinnere mich nicht mehr genau. Aber ich habe Rainer angemerkt, dass das noch immer an ihm nagte. Später habe ich dann überlegt, ob er diesen Verlust wohl nicht verwunden hat und deshalb so eine Nervensäge geworden ist.«
Nach diesem Telefonat verfasste Katharina zwei stichpunktartige Gesprächsnotizen und tippte diese in ihr Notebook ein. Unter die Zusammenfassung schrieb sie: Ist, laut Rolf Uhlenbrock, früh Witwer geworden! Wahrscheinlich hatte das mit seinem Tod nichts zu tun. Dennoch musste so eine Aussage überprüft werden.
Anschließend beschloss sie, Feierabend zu machen. Schließlich war morgen auch noch ein Tag, und dann würde sie sich mit Heffners Vergangenheit beschäftigen. Außerdem hatte es in ihrem Knie wieder angefangen zu pochen. Wollte sie heute Nacht einigermaßen schlafen, musste sie unbedingt noch bei der Apotheke vorbei, bevor die schloss.
Eine Stunde später erklomm Katharina, mit einer Hand am Geländer, die Stufen zu ihrer Wohnung. Seit fast fünf Jahren wohnte sie in der Lönstraße, einer ruhigen Wohnstraße mit mehrgeschossigen, sandsteinfarbenen Häusern aus den Dreißigerjahren. Die Straße lag im Erphoviertel, das nur einen Katzensprung von Münsters Innenstadt entfernt war.
Katharina hatte gerade die letzte Stufe zum zweiten Stock erreicht, als die Wohnungstür der beiden Frauen aufgerissen wurde, die unter ihr wohnten. Eine in Tränen aufgelöste Chrissi stürzte an Katharina vorbei und rempelte dabei unsanft gegen ihre Schulter. Es war Katharinas Glück, dass sie sich so nah am Geländer befunden hatte und sich deshalb daran festklammern konnte. Trotzdem kam sie ins Straucheln. Ihr verletztes Knie verdrehte sich, und der Schmerz, der ihr daraufhin bis unter ihre Schädeldecke schoss, trieb ihr die Tränen in die Augen.
Heide tauchte mit erschrockenem Gesicht in der Tür auf. Mit zwei Schritten war sie bei Katharina. »Oh, Kati! Das tut mir leid. Hast du dir wehgetan?«
Katharina ließ sich von Heide die restlichen zwei Stufen hinaufhelfen und versuchte, die aufkommende Übelkeit zurückzudrängen. »Ja«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich habe einen Kapselriss im Knie. Und genau das hat gerade fast eine 180-Grad-Drehung gemacht.«
Heide zog scharf Luft zwischen den Zähnen ein und machte ein Gesicht, als hätte sich ihr eigenes Knie gerade verdreht. »Komm, ich bringe dich noch bis oben.« Sie legte einen Arm um Katharinas Hüfte.
»Was ist mit Chrissi?«, fragte Katharina, als sie vor ihrer Wohnungstür angekommen waren.
Ihre Nachbarin machte ein betretenes Gesicht. »Tja … also … sie hat in meinem Handy etwas gesehen, was nicht für sie bestimmt war.«
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