Denn in Köln hatte es aufgehört, dieses seltsame Gefühl, anders zu sein. Etwas zu vermissen und gleichzeitig in Panik zu geraten, weil sie dachte, jemand sei hinter ihr her. Martin, Laurins Vater, hatte damals gemeint, es läge sicher daran, dass sie mit ihrem Vater in solcher Konkurrenz gelebt hatte. Linda wusste nicht, ob es stimmte, aber die Distanz zu ihrem Vater hatte ihr mehr als gut getan. Dank Martin hatte sie gelernt, mit Ängsten umzugehen. Sie hatte ein gesundes Bauchgefühl entwickelt, gelernt, positive Energie für sich zu nutzen. Die Zeit in Köln war zu Anfang ganz leicht, ganz einfach gewesen. Gemeinsam hatte sie mit Martin die Schwangerschaft erlebt, die Geburt von Laurin und seine ersten drei Jahre.
Aber dann hatte Martin eine andere gehabt, eine Göttin, wie er sich ausdrückte. Von da ab kannte er Linda und Laurin nicht mehr. Ein großer Freundeskreis existierte nicht, sie hatte zu eng in Martins Radius gelebt.
So war sie doch nach Jever zurückgekehrt, wo sie ihren verbitterten Vater vorgefunden hatte, der ein Nichts ohne ihre Mutter war. Seit ihrem Tod brachte er das Gespräch immer wieder auf sie und verharrte mit seinen Gedanken genau dort, wo er vor drei Jahren stehen geblieben war: an ihrem offenen Grab.
Linda schaute auf die Uhr und hoffte, dass Thiemo gleich kommen würde, um sie beim Auspacken zu unterstützen. Es war nicht gut, wenn sie grübelte. Aber das kam halt, wenn man so viel allein war. Thiemo war noch immer angespannt und gereizt. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie das größte Chaos erst allein bewältigte. Obwohl es schon seltsam war, dass Thiemo sich am Tag des Umzuges nicht frei genommen hatte.
Wenn sie nur trainieren … Linda war für einen Augenblick wütend auf Sinje, die mit diesem einen unbedachten Satz Misstrauen gesät hatte, wo Linda vorher keins gekannt hatte. Aber Sinje war so, das hatte Linda schon festgestellt. Sie liebte es, vage Andeutungen zu machen, die in der Regel haltlos waren. Ansonsten kam Linda mit ihr gut aus. Immer, wenn es Schwierigkeiten gab, waren Sinje und Hanno zur Stelle, nahmen ihr Laurin ab oder packten ohne Worte mit an.
Trotzdem wünschte sich Linda jetzt Thiemo an ihre Seite.
»Es wird später heute«, hatte er vorhin gesagt. »Viel Ärger hier, aber ich will tun, was ich kann.«
Linda stand auf und versuchte in der Küche etwas Essbares zu zaubern. Das war mit einem jammernden Fünfjährigen am Bein gar nicht so einfach.
In der elektrischen Kühlbox fand sie etwas Käse und in der einen Küchenkiste eine Flasche Dornfelder, etwas Apfelsaft und ein Baguette zum Aufbacken. Klang gut, nur wurde der Backofen erst morgen angeschlossen. So hatte sie die Wahl, entweder pappweiches Baguette zu essen oder Sinje schon wieder um einen Gefallen zu bitten.
Es klingelte. Laut und schrill. An diese Klingel musste sie sich erst noch gewöhnen. In Jever hatte sie einen Gong gehabt, der weich und dezent darauf hinwies, dass sich Besuch ankündigte. Sie hätte darauf achten sollen, hier auch so einen zu bekommen; nun war es zu spät.
»Willkommen im neuen Zuhause!« Die Nachbarfamilien standen vor der Tür. Sie waren dabei, einen Kranz aufzuhängen, und überreichten ihr ein kleines Säckchen Salz und etwas hartes Brot.
»Das ist ja toll, aber … ich kann euch gar nichts anbieten!« Linda zuckte mit den Schultern und lächelte die Meute verlegen an. »Ich könnte jetzt den Pizzaservice anrufen und ihn bitten, eine Flasche Grappa mitzubringen …«
Die Frauen der Nachbarn hoben abwehrend die Hände.
»Aber ich glaube, da hier noch das totale Chaos herrscht, dass ich mich jetzt einfach bedanke und …«
In dem Augenblick quetschte Laurin seinen blonden Kopf zwischen die Knie seiner Mutter: »Was wollen die Leute?«, plapperte er. »Wir haben gar nix zu essen. Nur Pappebrot!«
Linda zuckte mit den Schultern. »Sag ich doch!«
»Macht nichts«, grinste Hanno. »Ich glaube, wir hätten euch vorwarnen sollen, aber ich dachte, Thiemo wüsste, dass am ersten Abend die Nachbarn mit einem Kranz kommen.«
»Thiemo ist gar nicht da«, sagte Linda. Nach dem betretenen Schweigen, das sie damit auslöste, wurde ihr die Absurdität ihrer Lage erst richtig bewusst. Ihr Ehemann wusste um die Sitten des Dorfes, sagte aber nichts und kreuzte an dem entscheidenden Einzugstag gar nicht erst auf.
»Er hat einfach so viel um die Ohren in der letzten Zeit«, versuchte Linda ihn in Schutz zu nehmen. Sie merkte selbst, wie hilflos und unehrlich ihre Worte rüberkamen.
»Ich bin übrigens Linda … wer mich noch nicht kennt …« Sie lachte, es klang schrill und sie wünschte sich eine dunkle Stimme, wie Sinje sie hatte. »Ich lade euch alle ein, wenn wir hier fertig sind. Versprochen.«
»Das ist doch ein Wort!«, rettete Hanno die Situation. Er schaute aufmunternd in die Runde. »Da können wir heute wohl verzichten, was?«
»Ich wusste echt nicht, dass ihr kommt. Ich habe nicht mal Schnaps hier – leider!«
»Macht wirklich nichts. Wenn du es nachholst! Wir wünschen noch einen schönen Abend!«
Linda schloss die Tür. »Thiemo hätte mich vorwarnen müssen!«, schimpfte sie leise. Dann hätte sie etwas dagehabt und sich nicht schon am ersten Tag vor den Nachbarn blamiert.
Linda ging zurück in die Küche und befand, dass das ganze Haus grässlich neu roch. Da half nur eines: Es musste in Besitz genommen werden, und zwar schnell. Obwohl sie zweifelte, dass sie diese stur in weiß gehaltenen Räume jemals als gemütlich empfinden würde. Sie hatte ein zartes Terracotta für die Wohnzimmerwand vorgeschlagen, aber Thiemo meinte, er wolle schließlich nicht in einem Tontopf wohnen. Diese warmen Farben hätte er schon den ganzen Tag auf der Arbeit um sich.
Nachdem Linda noch drei andere Variationen vorgeschlagen hatte und er ihr jedes Mal so dumm gekommen war, hatte sie sich dem Weiß gefügt und fühlte sich so manches Mal wie in einem ausgekleideten Sarg. Aber wenigstens hatte sie beim Aufstellen der Möbel freie Hand und konnte so eine gelungene Atmosphäre schaffen.
Linda räumte die Kiste mit den Tellern leer und stapelte sie in den Küchenschrank, als Laurin zu maulen anfing, weil er Hunger hatte und kein Pappbrot essen wollte. Das Baguette lag in Folie eingeschweißt vor ihr. Als sie es auspackte, war es biegsam wie Gummi.
»Pass auf, Laurin«, seufzte Linda. »Wir gehen zu Sinje und fragen, ob sie uns das Brot aufbackt.«
»Ich bleibe hier!«
»Kannst du das denn schon? Allein bleiben?«
Laurin nickte eifrig. »Bin doch schon groß!«
Linda schlüpfte in ihren blauen Blouson und stapfte durch die Baustraße.
Der Rohbau auf dem Nachbargrundstück war verwaist. Er wirkte trutzig und klobig. Vielleicht, weil die Vorderfront nur eine senkrechte Reihe kleiner Fenster über der Haustür hatte, die bislang außerdem nur dunkle Löcher in der Klinkerwand waren.
»Da kann später keiner reinschauen«, dachte Linda und warf einen Blick zurück. Laurin balancierte gerade über die Umzugskisten in der Stube.
Sinjes und Hannos gemütliches Haus war ein krasser Kontrast zu dem hohläugigen Bau nebenan, der in Linda immer ein leichtes Frösteln hervorrief. Sie hatte von den Menschen, die es bauten, noch nie etwas gesehen.
Hannos und Sinjes Garten war vollständig gezähmt. Noch hatte hier nicht der Alltag die Zügel in der Hand, der die zunächst akkurat und penibel angelegten Gärten meist doch recht bald in gemütlich angewilderte Gefilde übergehen ließ. Aber bei Hannos Pedanterie war das sicher nicht zu befürchten.
Probst stand auf dem Keramik-Klingelschild, das an der rotgeklinkerten Hauswand angebracht war. Darunter wanden sich in einem riesigen Blumenkübel Efeuranken zwischen blühenden Primeln. Später würde sich die untergehende Sonne rötlich in den Sprossenfenstern spiegeln.
Sinje und Hanno hatten es wirklich perfekt, aber sie waren auch kinderlos und mussten sich neben ihrem Beruf nicht um das Wohlergehen eines Fünfjährigen kümmern.
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