Regine Kölpin
Otternbiss
Inselkrimi
Regine Kölpin ist 1964 in Oberhausen geboren, lebt seit dem 5. Lebensjahr an der Nordseeküste und schreibt Romane und Geschichten unterschiedlicher Genres. Sie ist auch als Herausgeberin tätig und an verschiedenen Musik- und Bühnenproduktionen beteiligt. Außerdem hat sie etliche Kurztexte publiziert. Regine Kölpin ist verheiratet mit dem Musiker Frank Kölpin. Sie haben 5 erwachsene Kinder, mehrere Enkel und leben in einem kleinen Dorf an der Nordsee. In ihrer Freizeit vereisen sie gern mit ihrem Wohnmobil, um sich für neue Projekte inspirieren zu lassen. Dabei haben sie auch Usedom entdeckt und lieben gelernt. Ihre Lesungen gestaltet die Autorin oft mit dem Gitarrenduo »Rostfrei«. Mehr unter www.regine-koelpin.de
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Mörderische Mecklenburger Bucht (2017)
Mörderisches Usedom (2017)
Das verlorene Kind – Kaspar Hauser (2016)
Wer mordet schon im Wattenmeer? (2014)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
(Originalausgabe erschienen 2010 im Leda-Verlag)
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer
unter Verwendung eines Fotos von: © ThomBal / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6492-8
Für Torben
Maria weiß nicht, was Achim hier will. Sie weiß nicht einmal, warum sie sich von dieser Nervensäge hat breitschlagen lassen, ihm bis zum Osten von Wangerooge zu folgen.
Sie blickt zum Himmel. Es wird erneut ein heißer Tag werden. Später würde man sich am aufgeheizten Sand die Füße verbrennen. Achim hüpft fröhlich neben ihr her, aber sein Gesicht wirkt verkrampft. Er scheint ein großes Geheimnis zu haben. Sie sieht es ihm an. Immer wieder zerfurcht er seine sommersprossige Stirn, lässt den Zeigefinger in der kleinen Nase verschwinden. Außerdem hat sie gehört, wie er etwas von Bernsteinen geflüstert hat. Er ist fasziniert vom Goldgelb dieser Steine. Wenn Maria ihre Kette trägt, streicht er mit seinen dünnen Fingerspitzen fast andächtig darüber. Im Osten liegen nach starkem Seegang öfter welche. Wahrscheinlich hat Achim davon gehört. Er hat seine Ohren ja überall.
Da stehen sie sich beide nichts nach. Sie nehmen alles auf, was sie hören. Ihre Art, am Leben teilzunehmen, weil sie von den anderen ausgeschlossen sind. Außer Daniel gibt es niemanden, der Maria wirklich mag. Alle finden sie eigenartig. Weil sie mit ihren fünfzehn Jahren zu viel nachdenkt.
Sie weiß, dass Achim sie nett findet. Aber er ist gerade erst acht. Der Kleine wirkt immer so wie ein zu früh aus dem Nest gefallener Vogel. Seine rotblonden Haare, die sein blasses, mit Sommersprossen überzogenes Gesicht strähnig umrahmen, tragen dazu bei. Vielleicht mag sie ihn deshalb. In den zwei Wochen, seit sie zusammen im Schullandheim sind, hat sie ihn lieb gewonnen, wie einen kleinen Bruder.
Maria ist es jetzt am frühen Morgen bereits zu warm. Immer öfter wischt sie sich verstohlen über die Stirn. Schweißperlen reihen sich Pore an Pore. Sie schwitzt so leicht. Ab und zu öffnet sie den Mund, will etwas sagen, verschließt ihn dann aber, sperrt die Worte ungesagt ein.
Sie hält Achims Hand fest umschlossen und stapft mit ihm den langen Weg in Richtung der Ostdünen. Ihre Lippen werden von Schritt zu Schritt schmaler, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen sind. Ihr Atem geht eine Spur zu schnell. Sie hofft, dass keiner ihr Verschwinden bemerkt und sie zum Frühstück zurück sind. Es ist nicht erlaubt, unangemeldet zu gehen. Aber etwas in ihr hat sie davon abgehalten, ihren Spaziergang kundzutun. Vielleicht ist es die Spur von Abenteuer, die das alles hier so spannend macht. Endlich ist sie der Bestimmer, muss sich nicht den Anweisungen anderer unterordnen. Hätte sie gesagt, was sie vorhaben, es wäre ihnen vermutlich verboten worden. Keiner darf so früh am Morgen allein durch die Dünen laufen, geschweige denn sich so weit vom Heim entfernen. Auch wenn sie als Betreuerin arbeitet, ist es ihr nicht erlaubt, mit einem der Kinder einfach wegzugehen.
Maria wedelt sich mit der bloßen Hand Luft zu. Sie ist völlig aus der Puste. Es ist keine gute Idee gewesen, mit Achim mitzugehen. Sie hat ein schlechtes Gefühl.
Der Junge hüpft wie ein Gummiball auf und nieder, stimmt ein Lied an. Seine Worte klingen merkwürdig dünn in der Landschaft, so sehr er sich auch um Festigkeit in der Stimme bemüht.
»Kleine Möwe Jonathan …« Als hätten die Vögel seinen piepsigen Gesang vernommen, antworten sie ihm kreischend.
»Lass uns umkehren, Achim!«
Der Junge schüttelt den Kopf. »Ich muss bis ans Meer. Wo die Wellen brechen.«
»Warum?«, fragt sie, obwohl sie die Antwort eigentlich kennt. Maria zieht an seiner Hand. Die ist mittlerweile feucht geworden. Achim ist aufgeregt. Sie schaut in seine blassblauen Augen, die ihrem Blick aber ausweichen. »Du willst Bernsteine suchen, stimmt’s?«
Er nickt. Eine Strähne schiebt sich übers rechte Auge, wischt eine herauskullernde Träne zu einer gebogenen Linie.
»Für Oskar«, flüstert er und reißt sich los. Er kraxelt den Dünenüberweg hinauf.
»Bleib stehen!«, ruft Maria.
Achim hört aber nicht hin. Er stolpert durch den Sand, rennt in Richtung Dünenkamm. Dort verharrt er eine Weile, schaut sich kurz um und verschwindet zum Strand.
Für Oskar also. Maria seufzt. Oskar ist Achims kleiner Bruder. Todkrank, hat Leukämie. Deshalb ist Achim in der Kinderfreizeit. Seine Eltern müssen sich um den Jüngeren kümmern. Für den Älteren bleibt nicht viel Raum in einer solchen Zeit. Maria hat die Mutter beim Abschied erlebt. Achim ist ihr zu viel. Ihr Herz war nicht bei ihm. Maria sieht das. Der Vater ist auch komisch. Er hat den Kleinen fest im Arm gehalten und ihm noch etwas ins Ohr geflüstert. Danach hat Achim zwar gestrahlt, aber trotzdem war auch zwischen den beiden keine Nähe zu spüren.
Es steht ihr nicht zu, über irgendjemanden zu richten. Das ist arrogant.
Maria folgt Achim. Der Sand, der seitlich in ihre Sandalen rieselt, ist unangenehm. Sie schüttelt ihn aus, schleppt sich die Düne hinauf. Neben ihr raschelt es. Sie sieht das Ende einer Kreuzotter gerade im Dünengras verschwinden. Maria ist froh, dass der Überweg größtenteils mit Holzbohlen ausgelegt ist. Darauf läuft es sich etwas besser. Doch die Wärme steht hier schon, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Sie ist empfindlich damit. Als sie den Strand endlich vom Dünenkamm aus überblicken kann, rennt Achim bereits in Richtung Wattsaum.
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