Als Linda die Klingel betätigte, ertönte ein angenehmes Summen.
Sinje öffnete. »Scheinst ja wirklich Sehnsucht nach uns zu haben. Wir haben uns doch eben erst gesehen. Habe leider nicht viel Zeit, muss gleich noch einkaufen.« Sie zuckte mit den Schultern und lachte. »Ebbe im Kühlschrank. Bei euch gab’s ja nichts!«
»Ich wusste ja nicht …«
»War ein Spaß. Was brauchst du denn?«
»Ich wollte eigentlich nur …« Linda trat einen Schritt zurück, aber von der Auffahrt aus war es ihr unmöglich, in eines ihrer Fenster zu blicken.
»Ich seh schon.« Sinje hatte das Paket mit dem Brot unter Lindas Arm entdeckt. »Na, gib schon her!«, sagte sie und griff danach. »Das mit dem Pappbrot hat Laurin ja laut genug verkündet. Ich backe es euch auf, kein Ding.«
»Danke.« Linda renkte sich noch immer den Hals aus, um nach ihrem Sohn zu sehen. »Ich komme gleich wieder und hole es mir, weil … Laurin ist allein und …«
»Hier in Neustadtgödens kommt keiner weg. Hier kennt jeder jeden und so klein ist er doch nicht mehr. Wenn du aus dem Erkerfenster im Wohnzimmer siehst, kannst du übrigens in eure Küche gucken.«
Linda atmete auf. Sie machte sich wirklich immer viel zu viele Sorgen um Laurin.
Sinje hielt ihre langen Locken mit der einen Hand nach hinten, als sie das Brot in den Backofen schob, der jetzt leise vor sich hin summte. Sie richtete sich auf und warf das Haar noch einmal mit einer kräftigen Handbewegung zurück. »Nimmst es nachher einfach raus und ziehst die Haustür hinter dir zu, okay?«
»Das ist echt total nett. Ich bin völlig aufgeschmissen wegen des Essens«, sagte Linda.
»Brauchst du noch Wurst? Die habe ich nämlich da. Ich war vorhin noch beim Dorfschlachter und habe etwas geholt. Aber sonst … Wird Zeit, dass ich etwas besorge.« Sinje griff nach einem Stapel Klappboxen. »Also, wenn du was Wurstiges brauchst …«
Linda schüttelte den Kopf. »Das Brot reicht, ich habe noch Käse.«
Sinje schob ihr einen Stuhl hin. »Setz dich. Es dauert ja einen Moment, bis das Brot kross ist.«
Linda ließ sich auf den Korbstuhl gleiten und sah sich um. Die Küche war im Landhausstil eingerichtet, ganz anders als ihre hypermoderne Küche in Lackweiß mit anthrazitfarbener Arbeitsplatte.
Sinje und Hanno hatten terracottafarbene Wände und Linda fand es gar nicht schlecht, in der Wärme des Tontopfes zu leben.
»Gut, dass ihr jetzt endlich einzieht, dann wird alles ruhiger«, unterbrach Sinje Lindas Betrachtungen und zog ihre dunkle Winterjacke an. »Ich meine, Thiemo wird dann ruhiger. Der benimmt sich im Augenblick so gehetzt wie ein Hirsch bei der Treibjagd.«
Linda grinste, der Vergleich war nicht schlecht. Aber dann stand sie auf, ging zum Erker und suchte das Küchenfenster ab. Von Laurin war nichts zu entdecken.
»Der kann das schon, keine Sorge!« Sinje strich Linda über den Arm. »Ich weiß echt nicht, wo Hanno vorhin, nach dem Kranzaufhängen, noch hingefahren ist, also erschrick nicht, wenn er hinten durch die Tür kommt. Zu dumm, dass er sich nie abmeldet. Männer eben!« Sie nahm den Autoschlüssel vom Brett und ging nach draußen.
Linda setzte sich wieder an den Küchentisch und wartete. Das Summen des Backofens lullte sie ein. Erst jetzt merkte sie, wie schläfrig sie war, wie sehr die letzten Wochen sie mitgenommen hatten. Fast war Linda versucht, den Kopf auf den Tisch zu legen und einfach abzutauchen. Dann siegte doch ihre innere Unruhe. Sie sprang auf. Am liebsten wäre sie kurz nach Hause gelaufen, wegen Laurin, aber Sinje hatte recht: Es wäre albern.
Sie sollte lieber den kurzen Moment der Ruhe und Entspannung genießen. Hektik hatte sie in den nächsten Tagen und Wochen noch genug. Linda warf einen Blick aus dem Fenster.
Die Sonne färbte das umliegende Brachland jetzt in einem schönen Rot. Es schien, als habe sich der Tontopf aus Sinjes und Hannos Haus über ganz Neustadtgödens gestülpt, um den Ort an der Gemütlichkeit dieses Hauses teilnehmen zu lassen. Aber genau das erweckte in Linda ein seltsames Gefühl des Eingesperrtseins, eine Unruhe, die sie nicht erklären konnte. Sie sollte wohl aufhören, sich mit ihren Rutengängen und den anderen Sachen zu befassen. Vielleicht hatte Thiemo recht, sie steigerte sich dadurch in irrationale Ängste. Sie war jetzt erwachsen. Niemand verfolgte sie mehr. Ihre Mutter war tot und sie war für ihren Vater jetzt eher Trost als Konkurrenz. Es war alles in Ordnung. Alles gut.
Linda begann ruhig zu atmen und entspannte sich wieder.
Sie stand auf, wollte nach dem Brot schauen und sah, dass Sinje die Backtemperatur nur auf 50 Grad gestellt hatte. Kein Wunder, dass das Baguette nicht fertig wurde.
Linda stellte die Temperatur um, ging ins Wohnzimmer und schaute erneut aus dem Erkerfenster. Laurin winkte ihr fröhlich zu.
Als das Brot fertig war, holte Linda es mit den neben dem Ofen liegenden Topfhandschuhen heraus und wickelte es in ein Geschirrhandtuch.
Linda trat vor die Tür. Alles war still. Das Rot der Sonne war von der Dämmerung abgelöst worden. Kein Mensch war mehr in den Straßen. Dieses Dorf schien mit der Sonne schlafen zu gehen. Es war noch nicht mal richtig dunkel und doch hatte die nächtliche Schwermut sich über die Häuser gelegt und das leise Summen der nicht weit entfernten Bundesstraße wirkte wie ein Schlafgesang. Linda sog die Luft ein, die hier klarer als in Jever zu sein schien, wo oft der Hopfengeruch der Brauerei durch die Straßen zog, den sie nicht mochte.
Sie hastete an dem Rohbau vorbei und empfand beim Anblick des grellen Lichtes, das Laurin in ihrem Haus eingeschaltet hatte, eine Kälte, die sich mit dem Begriff »Zuhause« nicht vereinbaren ließ. Linda drückte das warme Brot an sich.
*
Die Sonne war noch am Himmel und das Geschrei der Möwen forderte Tanja Wildbruch auf, sich noch einmal vom Sofa zu erheben und nach draußen zu gehen. Es war ein zu schöner Abend, um ihn vor dem Fernseher zu verbringen. Das hatte auch später noch seinen Reiz.
Wenn Tanja frei hatte, machte sie oft so spät noch einen Spaziergang durch die Salzwiesen im Groden. Sie liebte die Nähe des Meeres, nur umgeben von den Seevögeln und den seltsamen Pflanzen, die es auf der ganzen Welt nur hier gab. Am liebsten hatte sie den Geruch des Strandwermutes, dessen Duft so einzigartig in der Nase brannte, wenn man eines der silbrigen Blätter zwischen den Fingern zerrieb. Und der Friedhof der Wattentiere unter der Strandsalzmelden war eben auch ein Geheimnis, das nicht jeder kannte.
Sie hatte es einmal mit … – Tanja zuckte mit den Schultern. Nicht an ihn denken. Nie mehr. Es war vorbei und das war auch gut so. Sie hatte die Nase von männlichen Wesen seitdem gestrichen voll. Ihr Glaube an die große Liebe war von ihm zerstört worden. Am Ende hatte sie allein und völlig blamiert dagestanden. Sie hätte nie geglaubt, was für menschliche Abgründe dieser Mann barg. Zunächst war er der große Charmeur gewesen. Er hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Aber je länger sie zusammen gewesen waren, desto stärker hatte er sich verändert. Manchmal hatte Tanja fast Angst vor ihm gehabt. Am Ende hatte er sie wie ein abgebranntes Streichholz fallen lassen und in den Boden getreten.
Aus lauter Panik, dass sie irgendwem von ihrem Verhältnis erzählen könnte, hatte er sie damals mit nächtlichen anonymen Anrufen bombardiert und auf der Arbeit so lange bedroht, bis sie nur noch ein Nervenbündel gewesen war.
Sie hatte sich verändert seitdem. Tanja war ängstlicher geworden und vorsichtiger. Sie hätte gleich weggehen sollen, damals. Einfach weg und vergessen. Aber es hatte gedauert, bis sie ihre Lähmung überwunden hatte und in der Lage war, sich mit der Zukunft und dem, was sie wirklich wollte, auseinanderzusetzen. Das Einzige, was sie sicher wusste, war, dass sie in jedem Fall an der See bleiben wollte; schon des Wattenmeeres wegen.
Читать дальше