Ich hätte jeden dieser Songs im Schlaf mitsingen können, so oft hatte ich sie die letzten dreiundzwanzig Jahre gehört. Mein Fuß wippte im Takt zu „Mothers Little Helper“, fiel mir auf. Je mehr meine Wut verrauchte, desto schäbiger fühlte ich mich. Einige Sätze unseres Streits wirbelten in meinem Kopf herum.
Oberflächliche Partymaus ... schnell weg mit dem Gedanken, bevor ich noch mehr an mir zweifle. Er hat das sicher nicht ernst gemeint.
Was er über meine Freunde gesagt hatte, konnte ich dagegen nicht so leicht herunterspielen. Clarissa und Christopher waren keine Engel, das ließ sich nicht schönreden, und mein letzter Freund war mir im Nachhinein selber peinlich. Als man das Koks bei ihm gefunden hatte und er als Hochstapler entlarvt worden war, hatte ich auch ohne den moralischen Zeigefinger meines Vaters begriffen, was für ein Fehlgriff das war. Damals war ich erst einundzwanzig und etwas naiv gewesen. Ich selbst hatte es als dummen Fehler abgehakt und ging nun sehr viel vorsichtiger an die Männer heran, wobei aktuell sowieso nichts zum Herangehen in Sichtweite war. Nur mein Vater hatte die Sache noch immer nicht verdaut, mein Freundeskreis verursachte ihm seitdem Magenschmerzen.
Ich zündete mir eine Zigarette an und lehnte mich zurück. Sie schmeckte scheußlich. Die grüne Banderole und die Menthol -Aufschrift auf der Packung waren mir beim Kauf entgangen. Irgendwo in meinen Schränken tummelte sich sicher noch eine Packung normaler Kippen, mir fehlte allerdings die Lust zum Suchen. Später würde ich mir eine richtige Zigarette ohne Hustenbonbongeschmack von meinem Vater stibitzen, beschloss ich. Er glaubte ernsthaft, ich würde es nicht merken, dass er seine was-weiß-ich-wievielte Nichtraucherphase wieder einmal aufgegeben hatte. Alle zwei Jahre nahm er den Kampf gegen seine Glimmstängel auf und verlor ihn spätestens nach ein paar Wochen.
Den nächsten Zug spülte ich mit einem weiteren Schluck Prosecco hinunter, zeitgleich setzten ein Stockwerk tiefer die ersten Takte von „I can`t get no Satisfaction“ ein.
Wahrscheinlich war es Mick Jaggers Schuld, dass aus mir kein braves Mauerblümchen geworden war, überlegte ich. Manchmal fühlte ich mich selbst wie der Kerl in diesem Song – nichts was ich tat, gab mir das Gefühl echter Befriedigung. Damit meine ich nicht sexuelle Befriedigung, die hätte ich sogar mit Christopher bekommen können. Es war vielmehr eine gewisse innere Unruhe, eine Leere, die nur nach ausgiebigen Wellnesstagen oder einer guten Party gelegentlich verschwand.
Die Musik kam mir nun noch einen Tick lauter vor. Mein Magen krampfte sich zusammen bei der Zeile über das schwarze Herz, das der Sänger mit einem Blick in sein Inneres erkannte.
A usgerechnet jetzt mussten die Stones mein schlechtes Gewissen anheizen.
Danke Mick, Keith und Brian, dass ich mich noch mieser fühle.
Hätte ich den Kommentar über die Opis an Beatmungsmaschinen doch nur heruntergeschluckt. Warum musste mein Vater mich auch so provozieren? Er wusste genau, wie impulsiv ich war. Sein eigener Vater hatte die letzten Wochen seines Lebens an Maschinen verbracht, das muss für meinen Dad die Hölle gewesen sein. Ich war damals noch nicht geboren und dachte somit nie daran.
Ich sollte mich entschuldigen, nahm ich mir vor, denn verletzen wollte ich ihn nicht. Genau, ich würde ihm sagen, dass es mir leidtäte ...
„Verzogene, oberflächliche Partymaus.“
... am nächsten Tag. Abends. Nach dem Termin im Schönheitssalon. Das Tierheim würde einen weiteren Tag ohne mich schon überstehen, ich konnte auch am nächsten Abend damit anfangen, eine tiefsinnige, zuverlässige und gute Tochter zu sein.
„Och, Jean-Louis, kannst du nicht eine Ausnahme machen? Ich hab mir den Termin vor zwei Monaten schon reservieren lassen, da kannst du ihn doch auf Samstag verschieben.“
Mein Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, wartete ich vor meiner eigenen Haustür, dass mir jemand öffnete. Ich drückte ein paar Mal kräftig auf die Klingel, was mit fünf Einkaufstüten an jeder Hand nicht so leicht war.
„Chérie, du bist meine liebste Kundin, das weißt du doch, aber am Samstag noch einen Termin? Wie stellst du dir das vor? Da ist Rushhour für mich. Alle brauchen am Samstag einen Hairstylisten, ich glaube wirklich nicht ...“
Auch nach einem weiteren Sturmläuten blieb die Tür zu. Wo steckte denn Cornelius? Machte er zusammen mit der Köchin ein Schläfchen? Ich lugte kurz um die Ecke, ob vielleicht das Tor am Weg zur Terrasse offenstand. Es war zu und somit ebenfalls abgesperrt.
„Biiiitte“, flehte ich mit gespitzten Lippen ins Handy. „Ich weiß auch nicht, wo mir der Kopf steht vor lauter Terminverschiebungen. Die Maniküre hab ich schon abgesagt, bei meiner neuen ... T ätigkeit ... kann ich meine Nägel sowieso vergessen, und der Sport muss die nächsten Wochen auch Pause machen. Aber wenigstens meinen Haaren will ich was Gutes tun!“
Das Handy rutschte immer weiter nach unten, während ich mit meinen Tüten kämpfte und in meiner Tasche nach dem Schlüssel tastete. Am Abend wollte ich meinem Vater mein neues Brave-Tochter-Image demonstrieren, dafür hatte ich mir extra ein paar seriöse Klamotten gekauft und zwei Stunden lang in einem Straßencafé über mein Leben nachgedacht. Alleine, ohne Ablenkung durch schnatternde Freundinnen. Für das Tierheim war natürlich keine Zeit geblieben, aber das ließ sich nachholen. Nach zwei scheußlichen Latte und einem Glas Billigsprudelwasser war ich kein bisschen schlauer, dafür so durchgeschwitzt, dass ich mich am liebsten in den Zierbrunnen gesetzt hätte. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, denn selbst wenn kein Pressevertreter in der Menschenmenge gewesen wäre (einer davon tauchte immer in den unpassendsten Momenten auf), hätte ich mit Sicherheit ein peinliches Video von so einer Aktion im Netz wiedergefunden. Die Leute mussten ja wegen jedem Pups ihre Handykameras einschalten. Nein, danke.
„Also gut“, seufzte mein Lieblingsfriseur, „ich schiebe dich noch dazwischen. Sagen wir um eins?“
„Scheiße verdammt!“
Ich ließ meine Tüten fallen und sammelte mein Handy von der Fußmatte auf. „Nein, nicht du, mir ist das Handy runtergefallen. Eins ist super! Bis denne.“
„Ich stell den Prosecco kalt. Au revoir Chérie.“
Endlich fand ich meinen Schlüsselbund. Seit ich nicht mehr Auto fahren durfte, benutzte ich ihn kaum noch. Tagsüber ging die Haustür sowieso immer automatisch auf, sobald ich die oberste Stufe des Eingangsbereiches erreichte. Wie machte Cornelius das eigentlich? Saß er den ganzen Tag am Monitor der Überwachungskamera oder hatte er Sensoren eingebaut, die im Haus ein Signal auslösten, sobald sich jemand näherte? Darüber hatte ich bis gerade eben noch nie nachgedacht. Es ist schon witzig, dass einem selbstverständliche Dinge erst dann auffallen, wenn sie nicht mehr funktionieren. Warum das Haus um vier Uhr nachmittags wie ausgestorben war, verstand ich allerdings nicht. Hoffentlich war nichts passiert ... Cornelius war nur selten krank und für sein Alter ziemlich fit ... Wie alt war dieser Mann überhaupt? Ich würde ihn mal danach fragen, nahm ich mir vor, sobald ich diese Tür aufbekam.
Hinter mir knirschte der Kies. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter. Der Chauffeur stand am Fußende der Treppe, die Hände übereinandergelegt, und ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht.
„Können Sie mir mal helfen? Irgendwas klemmt“, forderte ich ihn auf.
Bedächtig stieg er die Stufen zu mir hoch. Der hatte die Ruhe weg. Die schwüle Hitze hier draußen war unerträglich, ein leises Grollen kündigte ein nahendes Unwetter an, und ich kam nicht in mein Haus mit der Klimaanlage und der kalten Dusche!
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