Finnegan hatte das Gefühl, dass er lange dort sitzen würde. Die Entführung war jetzt mehr als einen halben Tag her. Bis jetzt war noch keine Lösegeldforderung eingegangen. Der Chef hatte recht behalten. Das war keine erpresserische Entführung. Da steckte etwas anderes dahinter. Finnegan fielen drei plausible Szenarien ein. Erstens könnte es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handeln: Jemand will die Dame, und da sie für ihn unerreichbar ist, entführt er sie kurzerhand. Zweitens könnte es sich um Rache handeln. Das war noch nicht auszuschließen! Mrs. Stone mochte durchaus Feinde haben, von denen ihr vertrauensseliger Mann keine Ahnung hatte. Finnegan hielt Roberta Stone für eine Frau, die leicht zu hassen war.
Die dritte Möglichkeit war die unappetitlichste. Mrs. Stone konnte einem Serienmörder in die Hände gefallen sein. Dann wurde es wahrscheinlich blutig. Finnegan hoffte inständig, dass es nicht so war. Sie hasste den Anblick aufgeschlitzter Menschen. Sie persönlich tippte auf Rache als Motiv. Wahrscheinlich würde man irgendwann die geschändete Leiche von Roberta Stone aus dem Hudson ziehen, mit einer Kugel im Kopf oder durchschnittener Kehle.
Finnegan rieb sich die Augen. Sie war müde, daran konnten auch Unmengen Kaffee nichts ändern. Sie knipste ihre Schreibtischleuchte aus und fuhr ihren Rechner runter.
Auf dem Weg hinaus ging sie beim Büro ihres Chefs vorbei und spähte hinein. Maurer saß über die Zeichnung des Tatortes gebeugt und kritzelte auf einen Zettel Notizen.
»Nacht, Detective, ich mach Schluss für heute! Sie sollten auch eine Mütze voll Schlaf nehmen!«
Maurer versprach es und wünschte Finnegan eine gute Nacht. Er sah ihr hinterher, bis sie in den Aufzug stieg, der sie in die Tiefgarage zu ihrem Auto bringen würde. Er bedauerte sehr, dass Sergeant Finnegan in gut einer halben Stunde allein in ihrem Bett liegen würde.
Dann seufzte er und beugte sich wieder über den Plan. Ein, zwei Stunden würde er noch machen, bis er nach Hause ging – in seine fast leere Wohnung.
Er saß bewegungslos auf der Werkbank und wartete, dass es an der Zeit war weiterzumachen. Alles musste seine Richtigkeit haben. Seine Gefangene hing an ihrer Kette und rührte sich nicht. An ihrer Atmung konnte er erkennen, dass sie mit sich kämpfte. Sie konnte nur durch die Nase ein- und ausatmen. Das Geräusch war scharf beim Einatmen und langsam bei Ausatmen. Sie rang mit sich. Sie wusste nicht, was kam, wusste nicht, was mit ihr geschehen würde. Aber noch fehlte ihr die Einsicht. Noch hatte sie ihre Schuld nicht erkannt. Aber das würde sie! Es war eine Frage der Zeit.
Er würde gleich mit seiner Aufzählung weitermachen.
Jeden einzelnen Fall würde er aufführen. Wenn sie wüsste, wie lange er sie schon beobachtete – oder hatte beobachten lassen, als er selbst dazu nicht in der Lage gewesen war. Die langen Jahre im Ausland … Er hatte viel Geld für Detektive ausgegeben, immer darauf bedacht, dass keiner von ihnen einen Blick auf das ganze Bild erhaschen konnte. Jeder kannte nur eine Nuance des Puzzles. Nur er allein hatte den Überblick auf alle Teile und kannte das Gesamtbild.
Und nie hatte Roberta etwas bemerkt.
Er ließ sich von der Bank gleiten. Ihr schweißnasser Rücken glänzte im Fackellicht. Ein kleines Rinnsal zog seine Bahn zwischen den Muskelsträngen neben ihrer Wirbelsäule und verschwand zwischen ihren Gesäßbacken. Sie verlor immer mehr Flüssigkeit. Er musste darauf achten, dass sie nicht zu sehr dehydrierte.
Sie stand unter einer immensen Anspannung. Was kam als Nächstes? Die Ungewissheit nagte an ihr. Er wusste sehr gut, wie sie sich fühlte. Dabei blieben ihr die meisten Schmerzen sogar erspart.
Er ging um den hängenden Körper herum. Sie hing in der Mitte eines Kreises, auf dem er seine Bahn zog. Langsam und mit gemessenen Schritten ging er um sie herum, wieder und wieder. Schweigend kreiste er um sie wie der Mond um die Erde. Sie hatte sonst nichts, mit dem sie sich hätte beschäftigen können; schon deshalb folgte sie ihm mit ihrem Blick. Wenn er aus ihrem Blickfeld verschwand, sah sie sofort zur anderen Seite, wo er wieder erscheinen würde. Mehrere Dutzend Mal zog er seine Bahn wortlos um sie herum. Er sah sie dabei nicht an. Sein Blick blieb auf den Boden vor ihm gerichtet. Er behielt immer den Punkt im Auge, auf den er als Nächstes seinen Fuß setzen würde.
»Du hast nie darüber nachgedacht, was du anderen Menschen antust.« Das war keine Frage, das war eine Aussage. Roberta hätte ohnehin nicht antworten können. Sie war gezwungen, ihrem Peiniger zuzuhören, ob sie wollte oder nicht. Es bereitete ihr schon fast körperliche Schmerzen, ihm nicht den Mund verbieten zu können. Was hätte sie dafür gegeben, diesen Anklagen zu entkommen, was erst für die Möglichkeit, ihm Leid zuzufügen! Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie mit einem Baseballschläger auf ihn losgegangen. Wut und Hass.
Dieser miese Dreckskerl, Hurensohn, Mistbock …! Ihr fiel nichts ein, was ihrem Hass Ausdruck verliehen hätte. Es gab kein passendes Adjektiv für dieses niederträchtige Stück Mensch, das es wagte, ihr Gewalt anzutun, sie zu erniedrigen.
»Was hatte dein erster Mann Schlimmes getan, dass er den Tod verdient hatte? Was konnte die arme Angestellte dafür? Hank? Die drei in dem Oldsmobile? Du warst ihr Richter und ihr Henker, aber mit welchem Recht? Mit dem Recht des Stärkeren? Mit dem Recht dessen, der hinterhältiger und unmenschlicher ist? Jetzt …«
Er machte eine kleine Pause, ohne in seinem beständigen Schreiten innezuhalten oder sie anzublicken. Dann fuhr er fort, indem er das letzte Wort noch einmal wiederholte:
»Jetzt bin ich der Stärkere. Dir ist nichts geblieben, gar nichts. Denke nicht, du hättest eine Chance zu entkommen – selbst wenn dir das körperlich gelingen sollte, selbst wenn du mich ausschalten könntest, bevor ich fertig bin, selbst dann habe ich dich in der Gewalt.«
Die Schritte verstummten. Er war hinter ihr stehengeblieben. Minutenlang geschah nichts. Robertas Nerven summten vor Anspannung. Oder waren das die ersten Anzeichen, dass ihre Arme abzusterben begannen?
»Ich habe Beweise gesammelt. Für jedes deiner Verbrechen gibt es einen Beleg oder wenigstens einen Hinweis. Diese Beweise wird die Polizei bekommen.«
Roberta bäumte sich in ihren Fesseln auf. Sie rüttelte an ihren Ketten und warf sich herum. Ein unverständliches Geräusch quoll unter dem Knebel hervor, wie das erstickte Brüllen eines verwundeten Tieres. Das konnte er doch nicht tun! Nein? Warum sollte er nicht? Sie hätte es vielleicht nicht anders gemacht. Es war nur konsequent, wenn man bedachte, was er mit dieser Entführung, mit dieser Strafaktion bezweckte.
Roberta wurde schlagartig bewusst, dass sie geliefert war. So oder so, sie konnte sich von ihrem Leben verabschieden. Wenn die Polizei die Beweise für ihre Verbrechen zugespielt bekam, würde der Staat dafür sorgen, dass sie vom Leben zum Tode befördert würde, wenn ihr Entführer das nicht erledigte.
»Du solltest besser hoffen, dass die Polizei uns nicht findet«, sagte der Mann hinter ihr. »Du hast in vier verschiedenen Staaten gemordet. Dafür werden sie dich auf den Stuhl setzen. Das ist kein angenehmer Tod. Du wirst innerlich gekocht, bevor die Spannung, der Stromfluss dich tötet. Ich habe Männer gesehen, die harte Kerle waren und sich in die Hosen gepisst haben, als es hieß, sich auf Old Sparky zu setzen. Und du bist nicht halb so tough, wie diese Jungs es waren, glaube mir.« Die teilnahmslose Stimme machte das Gesagte nur noch schlimmer in Robertas Ohren.
»Aber früher oder später werden die Cops uns aufspüren, ich gebe mich da keinen Illusionen hin. Die verstehen ihr Handwerk. Man sollte die Polizei nie unterschätzen. Sie mögen nicht viel Fantasie haben, aber sie sind gründlich, und wenn es einen Hinweis gibt, wo sie uns suchen müssen, dann werden sie ihn finden.«
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