Jetzt saß Mykola wieder im Sattel, notgedrungen. Der linke Knöchel war stark angeschwollen; wahrscheinlich war er gebrochen, mindestens ernstlich verstaucht. Der Geologe konnte jedenfalls keine zehn Schritte mehr tun.
Immerhin, wenn er die Erklärungen der Kasachen richtig verstanden hatte und ihn der Kompaß nicht trog, lag nun die reichliche Hälfte des Weges hinter ihm. Die zweite freilich würde noch schlimmer werden, soviel war klar.
Unvermittelt verhielt das Pferd den Schritt und wandte den Kopf mißtrauisch nach rechts. Mykola blickte sich um und vergaß augenblicklich seine Qualen.
Er sah einen fliegenden Ziegelstein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er die Entfernung richtig einschätzen konnte, da wurde ihm bewußt, daß es ein Riesenziegel sein mußte, an die zehn Meter lang. Das Ding hatte an jeder Ecke ein Büschel langer antennenartiger Gebilde, aber die Form war eindeutig die eines gewöhnlichen Maurerziegels, auch die orangerote Farbe stimmte. Der Ziegel schwebte etwa einen Meter über dem rissigen, von spärlicher Vegetation bewachsenen Erdboden und kam, leicht um seine senkrechte Mittelachse pendelnd, mit großer Geschwindigkeit näher. Mykola starrte die seltsame Erscheinung fassungslos an.
Noch ehe sein Reiter einen klaren Gedanken gefaßt hatte, kam das Pferd zu einem höchst vernünftigen Entschluß und suchte sein Heil in der Flucht. Mykola, der dabei fast aus dem Sattel gefallen wäre, erwachte aus seiner Erstarrung und hielt sich fest, so gut es ging; mangels besserer Ideen schloß er sich der Meinung seines Reittiers an. Doch zu spät: Der Flugziegel war schneller. Irgend etwas hemmte plötzlich die Flucht des Pferdes, es blieb stehen, als sei es gegen eine Wand aus Watte gelaufen. Auch der Geologe stellte erschrocken fest, daß eine unsichtbare Kraft alle seine Bewegungen behinderte. Das letzte, was er wahrnahm, war die offene Unterseite des Ziegels.
Dann umgab ihn Dunkelheit, und er empfand nichts mehr.
L0. das rätselhafte lebewesen
in menschliche begriffe übertragen, bedeuteten die hohen erregungszustände in einigen baugruppen des leitcomputers unzufriedenheit; doch ist eigentlich kein solcher vergleich möglich, denn jenes zentrale informationsverarbeitende system der landeeinheit war bei weitem nicht so subtil strukturiert wie ein menschenhirn. andererseits war es eine sehr komplizierte maschine, und da unzufriedenheit eine elementare emotion ist, war der computer vielleicht doch zu einem ähnlichen zustand fähig, sahen die ergebnisse der dritten expedition doch bisher sehr mager aus. das änderte sich, als sammelmodul 2 mit seiner beute eintraf, es kam selten vor, daß die moduls solch große tiere einfingen.
die beute wurde mit der gebührenden vorsicht aus modul 2 in den aufnahmebehälter der landeeinheit überführt, dann schickte der leitcomputer das modul zur erneuten suche aus und begann entsprechend dem programm mit der untersuchung des eingesammelten exemplars.
an allen wänden der aufnahmekammer öffneten sich kleine klappen, aus den öffnungen dahinter erschienen die alles sehenden objektive der optischen registratur. der leitcomputer wertete die aufgenommenen bilddaten aus und speicherte die schlußfolgerung: es handelte sich um einen neuentdeckten vertreter der planetenfauna, der besonders interessant zu sein schien, denn er unterschied sich von allen bisher bekannten spezies. er glich zwar entfernt einem längst in der sammlung vorhandenen vierbeinigen grasfresser, hatte aber hinter dem normalen ersten kopf einen zweiten; dieser war mit dem rumpf durch einen länglichen höcker verbunden, der zudem noch zwei weitere gliedmaßen trug. lebewesen mit sechs gliedmaßen hatte die expedition auf diesem planeten bereits gefunden, jene waren jedoch wesentlich kleiner und von völlig anderem körperbau. ein wesen mit zwei köpfen aber war zum erstenmal erbeutet worden.
um in der zweiten phase der untersuchung die reaktionen und bewegungen des exemplars zu testen, schaltete der leitcomputer das fesselnde kraftfeld ab.
wie in solchen fällen üblich, reagierte das wesen recht heftig, soweit es die wände des aufnahmebehälters zuließen. es bewegte ungestüm den vorderen kopf und die vier unteren gliedmaßen, drehte sich auf der stelle und warf bald die vorderen, bald die hinteren beine empor. der zweite kopf und das obere paar gliedmaßen schienen keine aktiven bewegungen auszuführen.
plötzlich durchflossen alarmierende ströme die baugruppen des leitcomputers: das eingefangene zweiköpfige wesen war verschwunden. statt dessen befanden sich im aufnahmebehälter zwei neue wesen – ein vierbeiniges und ein zweibeiniges, der zweibeiner lag reglos am boden des behälters. er war die ursache für den alarm: der leitcomputer hatte sofort festgestellt, daß das merkmalschema des zweibeiners dem der vernunftbegabten planetenbewohner entsprach. laut programm waren wesen mit dieser merkmalskonfiguration tabu, begegnungen mit ihnen waren zu vermeiden, und natürlich durften diese wesen erst recht nicht für die kollektion eingefangen werden.
der leitcomputer dachte nicht darüber nach, wieso das zweiköpfige wesen verschwunden und der vernunftbegabte aufgetaucht war; er konnte gar nicht nachdenken. er reagierte auf die gegebene situation und führte aus, was das programm ihm vorschrieb. also übergab er das vernunftbegabte wesen einem der sammelmoduls, das es außer sichtweite der landeeinheit brachte und dort unverzüglich freiließ: die luke im boden des moduls öffnete sich, der vernunftbegabte fiel einen knappen halben meter tief auf den steppenboden, und das sammelmodul entfernte sich mit höchstgeschwindigkeit.
3. Reiter ohne Pferd
Als Mykola Sewerdenko wieder zu Bewußtsein kam, erblickte er vor dem flachen Horizont der Steppe einen ausgetrockneten niedrigen Dornenstrauch, zu dem sich ein breiter, langer Schatten hinzog.
Es brauchte einige Zeit, bis er darin den eigenen Schatten erkannte. Seine Gedanken flossen träge und unwillig, er fühlte sich zu Tode erschöpft und wäre vielleicht einfach unter der sinkenden Sonne liegengeblieben. Doch unvermittelt stellte sich der Schmerz im linken Fuß wieder ein, brachte den Geologen vollends zu sich und die Erinnerung zurück. Die reichte freilich nur bis zu dem Augenblick, als er unter oder in dem fliegenden Ziegelstein das Bewußtsein verloren hatte. Zwar zweifelte er an der Realität jener seltsamen Erscheinung; doch obwohl er nie zuvor an Halluzinationen gelitten hatte und ihm die ganze Angelegenheit äußerst unheimlich war, beunruhigte ihn etwas anderes viel mehr.
Er hatte keine Ahnung, wohin er geraten war, und noch weniger, wie er weiterkommen sollte. Mit dem verletzten Fuß konnte er unmöglich gehen. Er versuchte es; nach fünfzig Metern wurde ihm schwarz vor Augen, und nach weiteren fünfzig wußte er, daß er den Versuch nicht wiederholen würde. Er sah keinen Ausweg und richtete sich darauf ein, die Nacht in der Steppe zu verbringen. Was sonst sollte er tun?
So saß er zusammengekauert auf dem Erdboden, frierend und hungrig, denn sein Proviant hatte sich in den Satteltaschen des Pferdes befunden, und mit dem Tier war auch sein Schlafsack verschwunden. Der Sonnenuntergang war sehr malerisch, heiterte ihn aber nicht im geringsten auf. Sonst hatte er gern die funkelnden Sterne betrachtet und darüber nachgedacht, ob ein paar davon wohl bewohnt wären; diesmal bedeutete der klare Himmel für ihn nur, daß eine besonders kalte Nacht bevorstand.
LL. pferd ohne reiter
nachdem die vorrangige aufgabe des programms abgearbeitet und der vernunftbegabte freigelassen war, wandte der leitcomputer seine aufmerksamkeit dem zweiten so plötzlich aufgetauchten wesen zu, das sich noch immer recht energisch im aufnahmebehälter bewegte. die analyse seiner charakteristika ergab, daß es sich bei diesem vierfüßer um den vertreter einer spezies handelte, die bereits mit einem exemplar in der sammlung vertreten war. da die landeeinheit nur über eine beschränkte ladekapazität für die biologische kollektion verfügte, entledigte sich der computer programmgemäß des duplikats. es wurde also per kraftfeld in die steppe befördert und galoppierte davon, in einiger entfernung beruhigte es sich und trabte langsam weiter.
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