Eriksson
Oktobermeer
Erik Eriksson
Oktobermeer
Übersetzt aus dem Schwedischen
von Else Ebel
© 2010 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
www.oktoberverlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Originaltitel: Oktoberhavet
Satz: Linna Grage
Umschlag: Tom van Endert
unter Verwendung eines Fotos von www.photocase.de/JokeyEye
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net
ISBN: 978-3-941895-02-7
DER SOHN
Es hatte die ganze Woche über geregnet, es war nicht besonders kalt, hinten auf dem Hügel am Hafen, dort wo die Campingwagen parkten, trugen die Eichen noch ihr grünes Laub. Einige Touristen waren noch da, aber die Imbissbuden waren geschlossen, die Saison war zu Ende. Tagsüber war ich mit Schreiben beschäftigt, abends saß ich am Kaminfeuer und las; ich hatte im Frühsommer einige große Kiefern fällen lassen und heizte jetzt mit deren Holz.
Eines Abends wurde ich recht spät von einem unbekannten jüngeren Mann angerufen, er sprach englisch mit einem Akzent, er entschuldigte sich, nahm an, dass er störe. Ich sagte, dass ich für gewöhnlich lange auf sei, und dass es deshalb nichts ausmache.
Der Regen hatte während des Gesprächs an Stärke zugenommen, es pladderte laut auf das Dach des Gewächshauses draußen vor dem Wohnzimmer, in dem ich saß. Natürlich war es reiner Zufall, dass der Unbekannte gerade an diesem Abend angerufen hatte, die ganze Woche hatte es geregnet. Es sollte sich jedoch zeigen, dass das Wetter für ihn von großer Bedeutung war. Der Herbstregen war wichtig.
Der Unbekannte kannte meinen Namen, er nannte mich Sir, Mister, er war auf eine altmodische Art sehr höflich. Vielleicht war er ein wenig nervös, er hatte vergessen, sich selbst vorzustellen. Ich fragte ihn nach seinem Namen.
»Anton, ich bitte um Entschuldigung, ich heiße Anton, ich komme aus Sankt Petersburg.«
»Ah, ja?«
»Ich glaube, Sie haben meinen Vater gekannt, er hat sich eine Zeitlang in Schweden aufgehalten.«
»Ah, ja?«
»Er ist im Herbst 1977 hier gewesen, auch einige Zeit im darauf folgenden Jahr, er ist von einem russischen Schiff gekommen, ja, unser Land hieß ja damals Sowjetunion, deshalb muss man wohl sagen, dass das Schiff sowjetisch war, es war ein sowjetisches Lastschiff.«
»Wie hieß Ihr Vater denn?«
»Michail Stein.«
Ich glaube, ich habe eine ganze Weile schweigend dagesessen, ich hörte, wie der Mann atmete, ich überlegte, ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Ich kannte Michail Stein, aber wie konnte diese unbekannte Person denn wissen, dass ich das alles durch einen reinen Zufall erfahren hatte? Dieser Unbekannte kam außerdem offenbar aus diesem chaotischen Russland, ich fühlte eine leise Unruhe in mir aufsteigen.
»Warum rufen Sie mich eigentlich an«, sagte ich schließlich und versuchte nicht, meine Zweifel zu verbergen.
»Ich weiß, dass ich Sie belästige«, antwortete der Mann, der sich Anton nannte, »mir ist klar, dass ich aufdringlich bin, das hier ist jedoch sehr wichtig für mich. Sie hatten Kontakt mit den Verwandten der Frau, die mein Vater hier in Schweden kennen gelernt hat.«
»Und wenn das so sein sollte?«
»Sie können mir helfen, ich bitte Sie darum, Sie könnten mir die allergrößte Hilfe sein.«
Er sprach ein gutes, allerdings etwas kompliziertes Englisch von einer Art, die wahrscheinlich in alten Übungsbüchern vorkam, er entschuldigte sich ständig, benutzte so altertümliche Wendungen wie: Could be of the greatest assistance, I urge, I would like to apologize. Ich nahm an, dass er gebildet war, er hatte eine gute Aussprache, wie sie gebildete Russen oft haben, wenn sie fremde Sprachen sprechen.
»Und was für eine Art von Hilfe, glauben Sie, kann ich Ihnen anbieten?«
»Wir könnten uns treffen, so dass ich mein Anliegen näher erläutern könnte.«
»Jetzt telefonieren wir miteinander, reicht das nicht?«
»Ich bitte Sie sehr, das hier ist von größter Bedeutung für mich, es betrifft mein weiteres Leben, es kann gar nicht überschätzt werden.«
Er wiederholte die alten englischen Wendungen, und jetzt betonte er die Wörter auf eine Art und Weise, die nicht britisch war, ich glaube sogar, dass er einmal etwas schluchzte. Ich ließ mich also überzeugen, denn ich begann zu begreifen, dass es ihm ernst war, er war vielleicht auf der Suche nach entscheidenden Fakten hinsichtlich seines Lebens. Ich wusste ja einiges darüber, was sein Vater durchgemacht und was er anderen Menschen zugefügt hatte.
»Und wenn wir uns treffen sollten, wie bald soll das sein?«
»So bald wie möglich, wenn es für Sie ginge, für meinen Teil würde ich ein sofortiges Treffen vorziehen.«
»Wo wohnen Sie denn?«
»In einem Hotel in Grisslehamn.«
»Also befinden Sie sich schon hier am Ort?«
»Ich habe ein Zimmer im Hotel »Havsbadet« gemietet.«
»Dann können wir uns dort vielleicht morgen Vormittag treffen.«
»Oh, ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Ich werde gegen elf dort sein, wir können eine Tasse Kaffee zusammen trinken und uns eine Weile unterhalten, Sie haben mir jedoch Ihren Nachnamen noch nicht genannt.«
»Muratov.«
»Sie tragen nicht den Namen Ihres Vaters?«
»Nein, das ist eine etwas umständliche Geschichte, die mit dem Verschwinden meines Vaters zusammenhängt.«
Ich war früh dran, spazierte durch den Hafen, betrachtete die Fischerboote, die am Kai vertäut lagen. Ein einzelner Platz war leer, ein Boot war draußen auf dem Meer. Die Fischerei lag danieder, viele schoben den Mangel an Dorsch auf die Robben, aber es gab auch eine andere Erklärung dafür: die große Ausfischung, die das Meer zerstört hatte, alle diese gigantischen schwimmenden Mähmaschinen in den Händen von habgierigen Menschen.
Die armen Fischer der Ostküste besaßen nur ihre kleinen Boote, sie kamen gegen die Konkurrenz nicht an, sie wurden aus dem Feld geschlagen. Fünf unbedeutende, lecke Kähne lagen an diesem Morgen an der Brücke, ein einziger befand sich auf dem Weg zurück vom Meer, wie immer, ohne einen Fang gemacht zu haben.
Niemand wartete am Kai, hielt den Kaffee im Bootshaus warm, schliff die Filetmesser, hoffte, niemand.
Das Hotel ist groß, es liegt am Nordabhang, hat eine schöne Aussicht über die Felsen, die Hafeneinfahrt und die roten Hütten. Es ist ein Konferenzhotel, die Büroleute kommen mit Bussen aus der Stadt, bleiben ein paar Tage, halten eine Tagung ab, essen gut, machen Spaziergänge, baden in der Sauna, trinken, klopfen vorsichtig an die Tür des Nachbarn, wachen mit Kopfschmerzen auf, tagen weiter, fahren nach Hause.
Ich ging den Pfad hinauf, schnappte nach Luft, ging das letzte Stück langsamer, nickte der Frau am Eingang zu, ich kannte sie, sie wohnt auf Fogdö. Ich sagte, dass ich jemanden treffen wolle, wurde um diese Zeit noch Kaffee serviert?
Ja, natürlich, im Speisesaal, sie würde Bescheid sagen.
Ich ging weiter durch die Hotelhalle und dachte, dass der Mann, den ich treffen wollte, vermutlich schon da sein und warten würde, da er es ja so eilig gehabt hatte.
Der Speisesaal war leer, eine Kellnerin war dabei, das Frühstücksgeschirr wegzuräumen, eine Möwe flog am Fenster vorbei, drehte um, schnappte nach irgendetwas in der Luft, verschwand in der Richtung, aus der sie gekommen war. Anton Muratov war noch nicht da, der Mann, den ich suchte, war noch nicht gekommen. Ich sah auf die Uhr, es war noch nicht ganz elf, ich war derjenige, der zu früh gekommen war.
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