Bernard Gotfryd - Anton der Taubenzüchter

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Abwechselnd haarsträubend und hoffnungsvoll, beginnt diese Sammlung von achtzehn wahren Geschichten über das Leben während des Holocausts in der Beschaulichkeit von Ferien auf dem Lande in Polen. Der Krieg zeichnet sich drohend am Horizont ab, aber Bernard Gotfryds Großmutter muss sich mit den Enkeln um einen gestohlenen Tisch kümmern. Gleichzeitig zutiefst persönlich und verankert in der Weltgeschichte, zeichnen die Erzählungen Gotfryds ein Bild des Alltags der jüdischen Menschen in Polen während des zweiten Weltkriegs und der Nachwirkungen des Holocausts. Er beschreibt seine Arbeit als Fotograf im Ghetto, seine ersten Liebesbeziehungen und die schwierige Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern. Dabei vereinen seine Erzählungen häufig die Beschreibung der Ereignisse während der Kriegszeit und ihre Auswirkungen auf das Leben Gotfryds etliche Jahre später. Durch diese Zeitsprünge gelingt es Gotfryd, den Holocaust mit der Gegenwart in Verbindung zu setzen und so einerseits die heutige Relevanz einer Auseinandersetzung mit dem Krieg zu verdeutlichen und sich andererseits der Frage zu stellen, was es bedeutet, den Holocaust zu überleben.
Das Buch enthält ein Nachwort seines Sohnes Howard Gotfryd.

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Inhaltsverzeichnis

Diebstahl eines Tisches

Das Hochzeitsbild

Die Violine

Der Füllfederhalter

Herr G.

Alexandra

Kurt

Der letzte Morgen

Anton der Taubenzüchter

Über Schuld

Drei Eier

Die Hinrichtung

Hans Bürger, Nr. 15252

Begegnung in Linz

Wieder vereint

Inge

An einem regnerischen Abend

Über Erinnerung

Nachwort

Nachbemerkung des Übersetzers

картинка 1

Bernard Gotfryd

Anton der Taubenzüchter

und andere Geschichten vom Holocaust

aus dem amerikanischen Englisch von

Michael Lehmann

Anton der Taubenzüchter - изображение 2

© 1990/2000 Bernard Gotfryd / The Johns Hopkins University Press

CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek

© 2021 by Sujet Verlag

Anton der Taubenzüchter

und andere Geschichten vom Holocaust

Autor: Bernard Gotfryd

Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von

Michael Lehmann

Originalausgabe Anton the Dove Fancier and Other Tales

from the Holocaust bei Simon and Schuster, New York 1990,

und André Deutsch, London 1991; erweiterte Neuausgabe bei Johns Hopkins UP, Baltimore und London 2000.

Die deutsche Übertragung enthält eine Auswahl aus beiden Ausgaben, zum Teil mit leichten Kürzungen.

Das Autorenpoträt wurde uns freundlicherweise aus dem Privatarchiv von Howard Gotfryd zur Verfügung gestellt.

Der Druck des Buches wurde dankenswerterweise durch Dominik Schuster aus Gauting gefördert, den langjährigen Freund von Bernard und Gina Gotfryd.

ISBN: 978-3-96202-618-9

Umschlaggestaltung: Jasmin Tank

Layout: Stella Dietrich

Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen

Printed in Europe

1. Auflage: 2021

www.sujet-verlag.de

Zur Erinnerung an meine Eltern, meine Angehörigen und

an Millionen unschuldige Opfer eines beispiellosen Genozids, 1939-1945

Quo vadis Domine?

Henryk Sienkiewicz

Vorwort des Autors

Ich wollte meine Geschichte schon vor sehr langer Zeit erzählen – tatsächlich schon vor mehr als vierzig Jahren. Ich hatte immer die Sorge, wenn ich all diese Momente nicht zu Papier brächte, würde ich sie vergessen. Doch als ich sie schließlich aufzuschreiben anfing, stellte ich fest, dass man solche Ereignisse nicht vergisst, auch nicht nach vierzig Jahren.

Ich kann immer noch meine Mutter hören, wie sie mich wenige Stunden vor ihrem Abtransport anflehte, mir ein Versteck zu suchen und so zu überleben, um der Welt zu berichten, was die Nazis uns angetan haben. Ihre Worte haben sich mir tief eingebrannt, ich lebte mit ihnen, und ich teilte sie immer wieder mit meinen Kindern, meinen Freunden und mit allen, die gewillt waren, mir zuzuhören.

Sehr häufig ziehen in meinen Träumen Gesichter lang schon Verstorbener an mir vorbei, und der Widerhall aus den Ghettos und Lagern erschallt in meinen Ohren.

Weil ich den besseren Teil meines Lebens als Fotograf gearbeitet habe, bekam ich zahllose Gelegenheiten, Persönlichkeiten aus der Welt der Künste und der Literatur zu begegnen. Als sie von den Erfahrungen hörten, die ich unter den Nazis machen musste, drängten sie mich, über mein Leben zu schreiben. Es sei geradezu meine Pflicht, meine Geschichte zu erzählen. Ich schuldete sie meinem Volk.

Die Episoden, die ich ausgewählt habe, handeln von menschlichen Wesen, einige davon nicht ohne Fehl und Tadel, einige waren gut, andere richtig böse. Wichtiger scheint mir: In allen Geschichten geht es um das Leid des menschlichen Geistes und seine Fähigkeit, es zu erdulden.

Diebstahl eines Tisches

Ich muss sieben gewesen sein, stand kurz vor meinem achten Geburtstag. Unweit der Stadt Radom in Polen, wo wir lebten, mieteten meine Eltern in jenem Sommer ein Häuschen, das zu einem Bauernhof gehörte; wir teilten es mit der Bauernfamilie. Unsere Hälfte besaß eine Veranda, die unser Vermieter eigens für uns gebaut hatte. Seiner Familie blieb eine große Küche, die auch als Wohnbereich diente; darüber war eine Dachkammer, wo seine Kinder schliefen.

Herr Joseph, unser Vermieter, war ein schwer arbeitender, ruhiger Mann, dessen Schnurrbart an den von Marschall Pilsudski erinnerte, damals Oberhaupt des polnischen Staates. Herr Joseph war mittlerer Größe und gutgebaut und hatte ein rotbackiges Gesicht. Er trug nie Schuhe, auch nicht, wenn es regnete, und seine Füße waren von einer Kruste aus getrocknetem Matsch überzogen. Er machte wenig Worte, tatsächlich hörte ich ihn nie sprechen, außer wenn er um etwas bat oder mit seinen Kindern schimpfte. Seine Frau war eine große und magere freundliche Frau, immer auf den Beinen, ewig geschäftig. Sie kleidete sich einfach; gewöhnlich trug sie einen langen Rock mit Blumenmuster und eine weiße Leinenbluse sowie um ihren Kopf ein rotes Tuch. Ihre ebenfalls bloßen Füße waren voller Schnittwunden und Beulen. Sie hatten drei Töchter und einen Sohn, der in meinem Alter war und mein Spielkamerad sein sollte. Die Woche über arbeiteten sie alle vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung auf dem Hof. Jeden Sonntag sah man die ganze Familie im Sonntagsstaat zur Kirche in einem benachbarten Dorf gehen. An diesem Tag trugen sie Schuhe in der Hand, als wollten sie sie nicht vorzeitig abnutzen.

Unser Häuschen stand am Rand einer Wiese neben einer tiefen Rinne, durch die ein Bach floss. Der Bach diente uns als Kühlschrank, in dem wir verderbliche Lebensmittel in großen Tontöpfen aufbewahrten, fest zugedeckt und gesichert durch schwere Steinbrocken. Rechts von unserer Veranda befanden sich ein Blumen-und ein Gemüsegarten, jenseits des Gartens ein Graben und eine schmale Kopfsteinpflasterstraße ohne jede Randbefestigung. Nicht weit hinter dem Häuschen überquerte man eine kleine Behelfsbrücke aus lose miteinander verbundenen Holzstämmen. Auf der anderen Seite stand eine Scheune mit Doppeltor und Strohdach; daneben der Stall, ein massives Gebäude, dessen tragendes System aus schweren Balken bestand. Überall nisteten Starenschwärme. Felder mit Weizen, Gerste und Kartoffeln reichten bis zu einem seichten Fluss, der langsam zwischen grünen Viehweiden dahinfloss; jenseits lag der Wald, reich an wilden Beeren aller Art, seltensten Pilzen, Haselnüssen und Wildblumen. An einer Stelle um eine Biegung herum verbreiterte sich der Fluss zu einem Teich, der tief genug zum Schwimmen war. Es roch nach frisch geschnittenem Heu und Kiefern. Hoch oben in den Baumkronen bauten Störche ihre Nester; sie krächzten und klapperten laut, wenn sie über unsern Köpfen kreisten.

Meine Eltern kamen zu dem Schluss, dies sei ein idealer Ort für Kinder; mein Bruder, meine Schwester und ich würden den ganzen Sommer auf dem Bauernhof verbringen, zusammen mit unserer Großmutter, die für uns sorgen sollte, während unsere Eltern nach Radom ins Geschäft zurückkehrten. Großmutter war eine kleingewachsene Dame. Unter der Woche bedeckte sie ihren Kopf mit einem Kopftuch; an Feiertagen machte das Kopftuch einer Perücke Platz. Dann konnte man sie am Küchenfenster finden, wo das Licht gut war und sie auf Hebräisch das Alte Testament las. Dabei bewegten sich ihre Lippen langsam und methodisch, ihre Augen funkelten. Sie erzählte mir oft Geschichten, die meine Phantasie erregten und mich von fliegenden Tieren träumen ließen. Mein Favorit war eine fliegende Kuh, die ein Ei im Weltraum legt; daraus schlüpft ein Adler, der die Kuh rettet und wieder hinunter zur Erde bringt. Über die Moral von der Geschichte habe ich mir nie Gedanken gemacht.

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