Sie fliegt ihm in die Arme.
»Anscheinend bist du wieder gesund. Das ging ja schneller, als ich dachte. Oder wolltest du dich etwa nur um den Besuch drücken?«
»Nein«, versichert sie ihm hastig, den Kopf an seinem Hals, seinen Duft in sich aufsaugend. Es sei ihr schlecht gegangen und nur die Freude, ihn wiederzusehen, ließe sie jetzt so übermütig erscheinen. Er freut sich auch auf sie, sie spürt es in seinem Schritt.
Nach der Wiedersehensparty liegt er erschöpft neben ihr, die Hand auf ihrer linken Brust und lächelt sein Sonnenscheinlächeln.
»Ich liebe dich«, flüstert sie. »Ich liebe, liebe, liebe dich.«
»Wie schön«, erwidert er. »Das Gleiche gilt für mich.«
Zufrieden kuscheln sie sich aneinander und für einen kurzen Moment denkt sie, dass es schierer Wahnsinn ist, dieses Erlebnis ihrem wahren Körper vorzuenthalten. Vielleicht, denkt sie weiter, vielleicht, wenn es so bleibt, brauche ich den Avatar nie wieder und er wird nie etwas davon erfahren. Doch eine dunkle Stimme flüstert im Hintergrundrauschen, dass es nicht so friedlich bleiben wird. Denn wenn auf etwas Verlass wäre, dann auf seine Unberechenbarkeit. Doch sie hört es nicht, zu sehr konzentriert sie sich auf den Strom der Liebeserklärungen, die er in ihr Haar flüstert.
Am nächsten Morgen wacht sie erst spät auf. Die Sonne scheint grell in ihr Fenster, und nach einem Moment des Sichsortierens bemerkt sie Thomas auf dem Stuhl neben ihrem Bett sitzen. Seine Miene ist düster und angespannt. Was denn sei, fragt sie verwirrt. Warum ist er nicht bei der Arbeit, was macht er hier? Er antwortet nicht.
»Bitte«, fleht sie ihn an. »Bitte sprich mit mir!«
Er dehnt den Augenblick, lässt sie zappeln im Angesicht des Sturms. Schließlich hält er ihr ein Bündel Papier entgegen. Nach ein, zwei Blicken lässt sie die Seiten sinken.
»Warum hast du eine Wohnung angemietet?«
Sie schweigt.
»Willst du mich verlassen? Ist es das, was du willst?« Er spricht leise, konzentriert.
Sie schüttelt stumm den Kopf.
»Patrizia, gibt es etwas, das du mir sagen willst?«
»Nein, Tom. Das hat gar nichts … das ist nichts.«
»Wer ist es?« Thomas ist inzwischen kalkweiß, seine Hände krampfen sich um die Armlehnen.
»Niemand, Tom, da ist niemand!«
»Wen willst du für dumm verkaufen? Das ist ein Mietvertrag – entweder wolltest du in aller Heimlichkeit verschwinden oder das ist dein kleines Liebesnest. Lohnt es sich denn? Hat er mehr Kohle, ist es das? Oder fickt er besser als ich, hä?«
»Da ist kein anderer, glaub mir doch!«
Mit einem Satz ist er neben ihr. Reißt ihr den Kopf nach hinten, die Hand in ihren Locken verkrallt. »Lüg mich nicht an, du Schlampe!«
»Tom, bitte!«
»Willst du mich überzeugen, Patty? Willst du mich wirklich überzeugen?« Seine Stimme ist zu einem heiseren Flüstern herabgesunken. »Willst du mir zeigen, dass Patty-Maus nur ein dummes, dummes Kind ist, das in fremden Wohnungen spielen geht?«
Sie versucht, zu nicken.
»Dann zeig sie mir. Jetzt, sofort!« Mit einem Griff schnappt er sich den Mietvertrag. »Du hast es ja gar nicht weit, wie ich sehe. Faul auch noch, was? Andere Nutten würden ihre Affären wenigstens vor ihren Männern geheim halten, aber selbst das kannst du nicht. Und jetzt raus aus dem Bett, sonst setzt es was!« Sein Fußtritt verfehlt sie nur knapp.
Als Thomas das Appartement gesehen hatte, war er so befremdet und geschockt, dass er zum ersten Mal ganz leise geworden war. Er war nicht wütend, nicht entsetzt. Er war sprachlos. Und zum ersten Mal hatte er ihr wirklich zugehört.
Sie erzählte ihm, was es mit dem Avatar auf sich hatte. Sie erzählte ihm von ihrer Liebe, völlig irrational unter den gegebenen Umständen, aber trotzdem unauslöschlich in ihr verankert. Sie erzählte ihm von ihrer Kindheit, dass sie Schläge schon von früher gekannt hatte und daher damit umgehen konnte. Sie erzählte ihm von ihrem Glauben an das Gute in ihm, von ihrem Vertrauen. Dass sich alles zum Guten wenden würde, wenn er sich nur einer Therapie unterziehen würde. Sie fragte ihn, ob er sie liebe. Warum er sie schlug. Warum er ihr immer wieder wehtat.
An diesem Abend rollten sie ihre Beziehung neu auf. Sie sezierten die guten wie die schlechten Dinge, und am Ende lagen sie sich weinend in den Armen.
Trotzdem wechselte Patrizia nicht wieder in ihren Körper zurück. Der Avatar war ihr Schutzschild in der Zeit, die Thomas brauchte, um das Ganze zu realisieren. Sie gab ihm die Codes der Alarmanlage nicht, als Selbstschutz, denn sie wusste nicht, wie weit sie ihm in dieser Phase des langsamen Begreifens trauen konnte. Zu groß war die Angst, dass er in einer unbeobachteten Minute in das Appartement schlüpfen und in einem Anfall unkontrollierter Raserei ihren biologischen Körper töten würde. Da sie sich vorstellen konnte, wie befremdlich die Situation für Thomas sein musste, aber auch wie demütigend, ertrug sie seine Ausbrüche und erklärte ihm immer wieder, dass sie das Ganze für ihn geplant hatte, weil sie ihm helfen wollte, einen anderen Weg einzuschlagen, und auch, dass sie die Schläge kaum spüren würde, die er dem Avatar verabreichte.
Nachdem er sich an die Situation gewöhnt hatte, verstrich ein weiterer Monat, der erstaunlich friedlich verlief. Thomas hatte sich im Griff, vergewisserte sich aber immer wieder, ob ihr die Schläge wirklich nichts ausmachten, ob es ihr gut ginge. Diese Fürsorge erinnerte sie an den Mann, den sie damals kennengelernt hatte, und ließ sie vor Freude weinen. Sie fühlte sich wieder so sicher, dass sie in ihren Körper zurückwechselte.
Eines Abends kam er mit der guten Nachricht nach Hause, dass er einen Therapeuten gefunden hätte. Der Haken daran war, dass der nächste Platz erst in sechs Monaten frei würde. Aber er hätte sich als dringender Fall ganz oben in die Warteliste eintragen lassen. Vielleicht – wenn ein anderer Klient absprang – würde er schon früher anfangen können. An diesem Abend schlossen beide aus einer Sektlaune heraus ein Abkommen, das Thomas die Wartezeit erleichtern sollte.
Wann immer er einen Wutausbruch heraufziehen spürte oder in eine Situation kam, die ihn die Kontrolle verlieren ließe, wollte er ein Codewort sagen, sodass Patrizia gewarnt war und in ihren Avatar wechseln konnte. Es sollte nur für absolute Notfälle sein, versicherte Thomas. Aber so weit wollte er es gar nicht kommen lassen. Schließlich liebte er sie mit jeder Faser seines Seins.
Doch diese Liebe allein konnte ihn letztlich nicht vor den gefürchteten Wutausbrüchen heilen. Also schlüpfte Patrizia immer wieder in ihren Avatar, so wie es besprochen war. Sie wusste, dass die Schläge nicht persönlich gemeint waren. Insgeheim liebte er sie, und was er mit seinen Fäusten malträtierte, war letztlich nichts weiter als eine Puppe. Eine teure, eine lebensechte, eine perfekt gebaute Puppe, aber eben nicht sie. Glaubte sie. Hoffte sie.
Je mehr Zeit verstrich, desto mehr gewöhnte sie sich daran. Am Anfang dachte sie noch voller Hoffnung, dass dieser Zustand nicht von Dauer sei. Er wollte etwas ändern, ihr zuliebe. Weil sie ihm wichtig war. Und eben doch mehr als ein Stück Scheiße, auch wenn er sie oft genug so behandelte. Letztlich würde ihr Plan aufgehen.
Irgendwann vergaß sie, die Tage zu zählen. Irgendwann wechselte sie nicht mehr in ihren wirklichen Körper. Das An- und Abschließen an die Lebenserhaltungssysteme war zu mühselig. Und mit dem Avatar erfüllte sie ihre Aufgaben so gut, wie mit ihrem Körper. Wozu die Mühe? Also begnügte sie sich damit, ihren Körper zu pflegen. Sie wusch ihn, salbte ihn ein, kümmerte sich liebevoll um ihn. Er sollte rein sein, wenn es endlich soweit war.
Irgendwann, dachte sie in einem dieser Momente, irgendwann werden wir wieder vereint. Wir alle drei – du, Tom und ich.
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