Bevor sie allerdings aus der Kate trat, hinaus in die Pracht, sammelte sie sich für einen Moment. Die Hand auf der Klinke, schloss sie die Augen, holte tief Luft und ließ ab von allem, was sie in der kurzen Spanne vom Aufwachen an bislang gesehen hatte, Dann trat sie auf die Veranda und öffnete langsam die Augen. Ganz still ließ sie den Blick über die Felder schweifen, die bis auf wenige Schritte direkt an ihre Kate heranwogten.
Ein stilles blaues Leuchten glomm in den Ährenspitzen. Dunkelblau, fast violett schimmerte es und das Herz ging ihr auf.
»Whiall chomain, ihr Lieben.« Als sie von der Veranda auf den Ackerboden trat, breitete sie die Hände aus und strich vorsichtig über die überreifen Ähren. »Zeigt mir den Weg.« Die Halme bogen sich beiseite, schufen ihr Gänge, ließen sie passieren. Aly lachte leise, als sie dem Pfad folgte, den das Feld ihr vorgab. Hin und wieder blieb sie stehen, um eine Pflanze zu untersuchen. Dann sah sie genauer hin, folgte dem Lichtfluss in Halm und Blättern mit den Fingern und lauschte auf das kaum hörbare Pochen im Herzen des Fruchtstands. Wo das Licht nur schwach glomm, spendete sie Mut und Zuversicht, bis der Funke wieder heller schien. An anderen Stellen waren die Ähren bereits jetzt reif zur Ernte. Dort wisperte sie etwas von Geduld und Zurückhaltung. »Eure Zeit wird kommen. Doch noch nicht jetzt, nicht jetzt. Allein werdet ihr verglühen.«
Nach ungefähr einer Stunde hatte das Feld sie wieder zur Kate zurückgeführt. Zu jeder guten Ernte gehörte ein guter, starker Tee. Sie sang vor sich hin, lauter nun, denn Stille gehörte nur aufs Feld. Kater maunzte auf dem Ofen, gerade erwacht aus Mäuseträumen. Was sollte es heute sein? Zitronenverbene? Melisse? Engelskraut? Rosmarin? »Ach, Kater, ich kann mich nicht entscheiden!« Sie ließ den Dutt Dutt sein und raufte sich herzhaft die Haare. Kater interessierte sich nicht wirklich für die Kräuter, wusste aber, dass er nicht eher etwas zu fressen bekommen würde, als die Teefrage geklärt war, also sprang er auf das Trockenregal und warf ein paar Bündel auf den Tisch. »Johanniskraut, Baldrian und Mohn?« Sie sah Kater verblüfft an. »Willst du mich einschläfern? Na egal, was soll’s, es wird schon seine Richtigkeit haben.« Sie kicherte, als die Kräuter im Wasser landeten, und hackte Katers Fleisch klein.
Die Frau auf der Liege sah glücklich aus. Entspannt, friedlich. Er fragte sich, warum sie eigentlich hier im Schlafzentrum war. Sie wirkte so gesund, so normal. Für gewöhnlich waren die Probanden älter und schnarchten in der Regel fürchterlich. Fürchterlicher waren allerdings die Momente der Stille. Schlafapnoe ist für den Zuschauer schlimmer als für den Patienten, dachte er bei sich. Aber wer so viele Atemaussetzer gehört hatte wie er, der nimmt sie nicht mehr auf der persönlichen Ebene wahr, der erschrickt nicht mehr, dem ist es egal. Aussetzer – Alarm-Knopf drücken – weiterlesen. Eigentlich waren die Menschen, die jenseits der Glasscheibe schliefen, gesichtslos für ihn. Eigentlich sah er nicht mehr hin. Denn eigentlich gab es nichts Spannenderes als die Bücher, die er in den langen Nächten verschlang, bis die Buchstaben zu tanzen begannen und ihm die Augen schwer wurden.
Heute allerdings lag da eine Frau, die im Schlaf lächelte. Und die dabei nicht im mindestens schnarchte. Und zudem blau leuchtete.
Er rieb sich die Augen. Blau-Leuchten, pah. Irgendetwas musste mit den Leuchtmitteln nicht stimmen, ein Nachglühen der Halogenlampen vielleicht? Er sah genauer hin. Nein, das Leuchten ging vom Bett, von ihr aus, nicht von der Decke. Wenn es real wäre, dachte er, müsste man es auch auf den Monitoren sehen. Wenn es real ist, dann bin ich nicht verrückt. Er kontrollierte die optische Überwachung. Dort war nichts zu sehen, kein Schimmern, kein Leuchten, kein Glühen. »Du spinnst«, stellte er entschieden fest. »Da ist nichts.« Für einen Moment lauschte er seinen eigenen Worten, die in der Luft vibrierten. Dann waren sie fort und er widmete sich wieder seinem Buch.
Als der Wecker den nächsten turnusmäßigen Gerätecheck – alle zwei Stunden EEG, EKG, Monitore, Optik – anpiepste, stellte er fest, dass er nichts von dem wahrgenommen hatte, was er in der Zwischenzeit gelesen hatte. Hatte er überhaupt gelesen? Oder hatte er nur abgewartet, um das Leuchten wieder zu sehen?
Er sah durch die Glasscheibe zu der Frau hinüber. Kein Leuchten. Alles in Ordnung.
Oder nicht? Sie lächelte noch immer, schöner als zuvor.
Aly summte vor sich hin. Der Tee zog im Kessel, Kater schmatzte über seiner Schüssel. Die Nacht war endgültig über den Horizont gekrochen und hatte die Sterne mitgebracht. Bald war es soweit. Nach der Ernte sollte es ein kräftiges Wurzelgemüse geben. Sie atmete tief den Duft von Knoblauch und Koriander ein. Zimt Sternanis, Kardamom und Nelken gesellten sich aus dem warmen Ofen dazu, in dem Lebkuchen buk.
Es war Weihnachtszeit. Advent. Advent wird abgeleitet von Adveniat, sagte sie sich, das heißt er kommt. Aly wusste nicht genau, wer dieses Jahr kommen würde, aber dass jemand käme, dessen war sie sich sicher. Und sie freute sich auf den Besuch. Dieses Jahr mehr denn je – warum, wusste sie nicht. Da war nur dieses Ziehen in der Brust, dieses Sehnen. Dieses Jahr würde er es sein. Nicht irgendjemand, sondern er, dachte sie mit einem Mal, viel drängender als sie es beabsichtigte. Erschrocken über die Heftigkeit dieses Gedankens schob sie ihn sofort in den hintersten Herzwinkel. Angst vor Enttäuschung?, spottete eine Stimme daraufhin in ihrem Kopf. Für einen kurzen Moment runzelte sie die Brauen. Sie kannte diese Stimme – und Himmel, sie hatte sie dermaßen satt! Früher einmal hatte diese Stimme sie ständig begleitet. Irgendwann allerdings hatte Aly angefangen sie zu überhören und irgendwann hatte sie tagelang nicht mehr an sie gedacht. Irgendwann einmal würde –
Mit einem Zischen kochte das Wasser über. Aly musste lachen. Manchmal gab es keine schönere Melodie als die Küchengeräusche. Alles lebt. Alles geht voran. »Nicht träumen, Aly!«, rügte sie sich scherzhaft, hängte den Topf mit den Kartoffeln höher und wurschtelte sich durchs Küchenallerlei.
Schließlich sah sie sich in dem Raum um, Es war ein einladender Ort, warm und duftend, gemütlich möbliert, ein Ort, an dem man sich zu Hause fühlte. Sie lächelte. Alles war bereit. Nun wollte sie die Ernte freisetzen und dann warten, dass der Himmel ihr ein wenig von dem zurückgeben würde, was sie in seinem Namen gab. Sie erwartete nichts. Aber sie wusste, dass sie beschenkt werden würde, ob sie es wollte oder nicht. Warum also nicht vorbereitet sein – auf alles und nichts?
Fröhlich lief sie zur Tür. Öffnete. Einen Moment später stolperte ihr Herz.
Das EKG spielte verrückt. Alarm, Alarm. Er musste handeln. Das war kein Atemaussetzer, das war ein Kammerflimmern – war es ein Kammerflimmern? Bitte nicht! – und er ganz allein hier. Verdammt, irgendwann musste es mal schief gehen. Die Anzeige des Geräts flackerte und blinkte, die Werte machten, was sie wollten. Er spurtete aus dem Raum, hinüber zu ihrem Bett, den automatischen Erste-Hilfe-Defibrillator in der Hand. Auspacken, Patches anschließen, Nachthemd hochschieben, Patches laut Anweisung anbringen und sich nicht, NICHT! aus der Ruhe bringen lassen.
Sie starrte fassungslos auf das Feld. Die Ähren, die sich noch am Morgen sattsam grün und reif und angefüllt mit verheißungsvollem Leuchten auf starken Halmen gewiegt hatten, waren geknickt, verdorrt. Das Feld lag brach, so als ob ein heißer Wüstenwind darüber hinweggefegt wäre. An manchen Stellen stand es in Feuer, an anderen wiederum versanken die Lichtträger in dunkelbraun brackigem Schlamm. Ein Lachen schwang im Brausen des Feuers und des Windes mit, ein Lachen strich über den Horizont und nahm auch die letzten aufrechten Halme unter seine Faust. Doch dieses Lachen hatte nichts gemein mit Alys Lachen. Oder deinem oder meinem. Dieses Lachen war Hohn und Spott und getränkt mit Schwärze. Es kam auf Krähenflügeln daher und ließ sich in Scharen auf der verwüsteten Krume nieder, derweil Aly das Herz in der Brust zersprang. Als nur mehr Scherben übrig waren, wurde sie von einem gleißenden Licht gepackt und geschüttelt. Als der Blitz sich verzogen hatte, fand sie sich auf der Veranda wieder, die Augen starr auf die Katastrophe gerichtet, doch ohne Schmerz nun. Da war nichts, das sie angriff, nichts, das sie schmerzte. Da war nur mehr eine aus Hilflosigkeit geborene Leere, die ihr die Glieder lähmte.
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