Gabriele Behrend
Außer der Reihe 48
Gabriele Behrend
SALZGRAS & LAVENDEL
Außer der Reihe 48
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: September 2020
p. machinery Michael Haitel
Titelabbildung: Gabriele Behrend
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Korrektorat & Lektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p. machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www. p machinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 208 9
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 883 8
Douglas wartet auf die Einfahrt der Linie 03, Nord-Süd-Achse. Er steht auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Station, halb im Schatten eines Rundpfeilers verborgen, und tut so, als sei er viele. Er übt es heimlich, dieses Zucken im Gesicht, die subtilen Veränderungen der Körperhaltung. Er versucht, ein Gefühl dafür zu bekommen, mehr zu sein, als er ist.
Da baut sich ein Hüne vor ihm auf. »Mach ihn nicht an, Alter.«
Douglas weicht einen Schritt zurück. Er kann keinen Ärger gebrauchen, das kann niemand hier.
»Du machst dich lustig über ihn, stimmt’s?« Der Riese schiebt sich vor Douglas. »Ich kann es nicht leiden, wenn sich jemand über ihn lustig macht, verstanden? Also entschuldige dich, und zwar dalli!«
Douglas räuspert sich. »Entschuldigen Sie, Sir. Soll nicht wieder vorkommen.« Seine Augen sind zu Boden gerichtet. Nur niemals so einem Kerl in die Augen sehen. Die sind reizbar, allesamt. Er wartet. Einen Herzschlag lang, zwei.
Der Hüne verliert plötzlich an Größe, als ob einem Luftballon die Luft ausgehen würde. »Schon gut, Sir. Ich muss mich entschuldigen. Mein Wachhund hat sich vorschnell dazwischen geschaltet. Er macht sich manchmal selbstständig.«
Douglas nickt vage, als ob er’s verstünde.
Der Hüne, der kein Riese mehr ist, sondern ein durchschnittlich grauer Mann in grauem Trenchcoat, wendet sich ab, schlurft ein paar Schritte nach rechts.
Douglas kann sehen, wie der Typ dabei mit sich selber redet, ohne einen Laut von sich zu geben. Es scheint ein heftiges Streitgespräch zu sein. Wer wohl gewinnen mag?
Douglas macht unbeteiligte Miene zum verwirrenden Schauspiel. Er greift nach dem Riemen seiner quadratischen Officebag, in dem auf kleinem Raum Datenwürfel, Laptop, Agenda und Smartphone zusammengepackt sind, und hält sich daran fest. Wenn doch nur die Bahn käme!
Ein Blick auf die elektronische Anzeige verrät ihm, dass es noch drei Minuten dauern wird. In drei Minuten kann viel passieren. Douglas sieht sich verstohlen um. Überall stehen Menschen, perfekt eingepasst in die persönliche Distanz. Keiner nimmt einem anderen den Platz. Überall maskenhafte Ruhe. Über den Köpfen baumeln in regelmäßigen Abständen Schilder:
»Halte deine Meute in Schach! Dein Nachbar wird’s dir danken!«
»Hier herrscht Gelassenheit!«
»Nehmt nichts persönlich!«
Dazwischen Smileys.
Douglas hat etwas gegen diese verordnete Fröhlichkeit. Die lachenden Rundgesichter sind zu grell, zu fröhlich, springen ihn an wie neongelbe Baseballbälle. So einer ist hart, wenn er mit voller Wucht geschleudert wird, sehr hart. Douglas zuckt zurück. In seinem Kopf erklingt ein meckerndes, ein hämisches Lachen. Schon formen sich Gesichter aus dem Nebel seiner Seele, Unwesen, schemenhaft, aber durch und durch bösartig. Douglas reißt die Augen auf. Bloß nicht allein sein, mit sich und dem inwendigen Gejohle. Seine Augen heften sich auf eine Videowall, die in die Tunnelwand eingelassen ist. Ferien in Norfolk, blühende Lavendelfelder. Sanftes Licht, sanfte Farben. Er sieht sich daran satt. Dann wird die Wall dunkel. Die U-Bahn fährt ein.
Ein Weckton zirpt durch den Raum. Etwas bewegt sich in der Tiefe der Bettdecken. Ein dunkelbrauner, lockiger Schopf rutscht tiefer zwischen das Weiß der Laken, dann wiederum strecken sich zwei schmale Arme darunter hervor. Mit einem ausgiebigen Gähnen folgt der dazugehörige Mensch. Es ist eine junge Frau, die gerade in diesem Moment unwillig das Gesicht verzieht und sich herumdreht. Nun liegt sie bäuchlings auf der Matratze und steckt den Kopf unter das Kissen. Der Weckruf wird lauter.
»Scheißding«, tönt es dumpf unter dem Kissen hervor, »hör endlich auf, ich bin ja wach!« Der Alarm macht weiter. Da schiebt die junge Frau das Kissen beiseite und bellt entnervt. »Stopp!« Der Weckton erstirbt. Die junge Frau aber dreht sich herum und setzt sich auf. Sie schlingt die Arme um die Beine und stützt ihr Kinn auf das Knie. »Jeden Morgen das gleiche«, murmelt sie. »Ist doch scheiße. Kann sich da keiner was anderes einfallen lassen?« Sie seufzt. Dann führt sie die rechte Hand an die Stelle hinter dem rechten Ohr, wo das Socket in den Schädelknochen eingelassen ist, und legt den Schalter um. Einen Moment später schwingt sie ihre Beine über die Bettkante, stützt sich mit den Händen auf der Matratze ab und scheint zu überlegen.
Etwas hat sich verändert. Die junge Frau hat ihren kindlichen Trotz überwunden und wirkt auf einmal reifer. Vernünftiger. Und das ist auch richtig so, denn Kaynee hat ihren Organisator ins Spiel gebracht. Wie jeden Morgen nach dem Aufwachen übernimmt Kora den Geist der Gesamtheit.
Sie überprüft die Dateien. Katy hat nichts Weltbewegendes geträumt, Kora findet nur eine kurze Notiz in dem Wechsellog. Sanders ist dort vermerkt, ohne nähere Erklärung. Aber Grund genug, sich den Techniker noch einmal genau anzusehen. Das ist eine Aufgabe für Karen, die Fürsorgerin. Kora trägt es gleich in deren persönlichen Kalender ein.
Danach sieht sie in der Hausgemeinschaft nach dem Rechten. Karl ist wach, hält sich aber zurück. Der Wachhund der Entität schläft kaum, ständig lauert er im Hintergrund, um sich vor die Gemeinschaft zu stellen, falls die persönliche Grenze überschritten oder Kaynee gar angegriffen wird. Kora wünscht sich manchmal, dass er entspannter wäre, aber das widerspräche seiner Natur und seiner Effizienz.
Keira und ihre Gruppe ruhen noch. Sie sind eindeutig zu gechillt in den letzten Tagen. Kora will sich das in der nächsten Zeit genauer anschauen. Sollte sich das so weiterentwickeln, dann muss sie über eine Nachprägung nachdenken. Die Entität ist auf das Sozial-Ich angewiesen, denn es ist die längste Zeit am Tag im Einsatz. Auch wenn Kay mit den ihren manchmal Sturm dagegen läuft. Aber Kaynee verbringt nun einmal mehr Zeit mit ihren Kollegen als mit sich selbst. Da kann sie sich keine Fehler leisten, da darf sie es nicht.
Der letzte Blick gilt der ungestümen Kay, deren Gruppe das Privat-Ich bildet. Es ist typisch für Kay, dass sie Katy den Schlaf überlassen hat. Einmal noch so unbeschwert spielen wie ein Kind, das wollte doch jeder. Um der Effizienz willen verschieben die meisten Menschen diesen Wunsch in die Nachtzeit. Im Traum kann man toben und tollen, ohne dass das Leben davon beeinflusst wird. Katy hat sich nach ihrem nächtlichen Einsatz bereits zurückgezogen, sie muss müde sein. Kora lächelt kurz. Alles ist so, wie es sein soll. Nun kann sie sich in ihr Büro zurückziehen, die Verbindung mit dem Internet herstellen und den Officekalender abrufen. Keira muss wissen, wann sie wo zu sein hat und wen sie aus ihrem Team wann einsetzen muss.
Auf dem Weg zu sich selber, treppauf, treppab im Gefüge von Kaynees Verstand, kommt Kora an der Tür zum Keller vorbei, ihr fährt ein leichter Schauer über den Rücken. Die Tür ist Ken. Ken ist der Türsteher am geistigen Abgrund. Hinter Ken steckt das Chaos, die Dämonenschar, die in dem geordneten Geist der Entität keinen Platz hat. Die inneren Dämonen, die der Effizienz wegen verbannt werden. Ausschalten darf man sie nicht, sonst gerät der komplexe Geist aus dem Gleichgewicht, aber durch die Kartografie der neuronalen Strukturen kann man sie herausfiltern und abscheiden und hinter einem festen Schloss sicher verwahren. Trotzdem ist da immer dieser Hauch der Ungewissheit. Was könnte alles passieren, wenn einmal der Riegel aufgestoßen würde? Wenn Ken versagte?
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