Was sie nicht wusste, war der Umstand, dass Thomas nicht mehr vorhatte, die Therapie anzufangen, die er ihr versprochen hatte. Denn auch er hatte sich sehr schnell an die Vorzüge des Avatars gewöhnt. Er liebte die Imitation. Es war viel einfacher, das Codewort zu sagen, kurz auf die Einwilligung zu warten und sich dann auszutoben. Er musste sich nicht mehr mit seinen Ängsten und Defiziten herumschlagen, er musste seine Schwächen nicht mehr vor einem anderen Mann oder, noch schlimmer, vor einer Frau offen darlegen. Psychologenschweine glaubten immer, dass sie dich ganz genau kennen. Einen Furz kennen sie!
Mit der Zeit begann er, Voranmeldungen zu platzieren. Er erzählte beispielsweise, dass er in eine stressige Situation geraten würde, ein wichtiges Meeting, vor dem ihm schon jetzt am Frühstückstisch graute. Er wüsste nicht, wie es ihm abends gehen würde, obschon er versuchen wolle, sich zusammenzureißen. Patrizia lernte schnell. Sie war bereits in ihren Avatar geschlüpft, wenn er abends nach Hause kam. Schlagen, schreien, quälen, ficken. Das entspannte ihn. Er liebte es, nach einer solchen Sitzung in Patrizias Armen zu liegen, und ihre Stimme zu hören, wenn sie ihn tröstete. Manchmal fragte sie ihn, wann die Therapie anfangen würde. Nachdem er das ein halbes Jahr hatte hinauszögern können – du weißt doch, Liebling, die Warteliste – begann er, ihr von Sitzungen vorzulügen. Es sei sehr interessant gewesen, er wüsste ein bisschen besser über sich Bescheid. Nur heute, heute seien die Pferde mit ihm durchgegangen, aber er wolle sich bessern. Schließlich liebte er sie.
Patrizia liegt auf der Couch und grübelt. Vormittags ist sie zum Chef herein gerufen worden. Lohnerhöhung, Beförderung. Man bietet ihr einen Job in Hamburg an. Es ist ein Karrieresprung – doch was wird Thomas dazu sagen? Gerade jetzt, wo bei ihm alles gut läuft. Die Therapie, sein Job. Endlich scheint er ein Bein auf den Boden zu bekommen. Er wird nicht wegziehen wollen. Wie sag ich’s meinem Kinde? Patrizia seufzt. Dass die Wäsche nicht fertig ist, wird ihm nicht gefallen, auch wenn seine Hemden gebügelt im Schrank hängen. Vielleicht hat sie ja Glück. Vielleicht hat er gute Laune und greift ihr bei der Hausarbeit unter die Arme – wovon träumst du nachts? Aber vielleicht kann sie ja doch alles schaffen, wenn sie nur fünf Minuten die Augen schließt und sich entspannt.
Die Lider werden schwer. Ihr Atem geht tief und regelmäßig.
Sie hört nicht, wie die Tür aufgeht. Sie hört nicht, wie er seine Aktentasche auf den Garderobentisch schmeißt. Sie sieht nicht, wie er sich sammeln muss, um nicht sofort aus der Haut zu fahren.
Die Küche, träumt sie. Ich muss unbedingt aufräumen.
Sie spürt Thomas erst, als er vor ihr in die Hocke geht und über ihr Haar streicht.
»Aktion Reiner Tisch?«, fragt er leise, gepresst, hungrig.
»Tisch«, murmelt sie im Halbschlaf. »Ja, ja, der Tisch.«
Er wundert sich zwar, warum sie nicht nachfragt, wie sonst immer. Doch nur für einen Moment. Denn eigentlich ist es ihm recht, dass er vorher nicht reden muss. Reden kann man ja später. Das, was vorher kommt, ist ihm bedeutend wichtiger.
Patrizia weiß nicht, wie ihr geschieht, als er sie an den Haaren vom Sofa zerrt. Sie kann die ersten Schläge nicht abwehren, schlaftrunken, wie sie ist. Danach explodiert der Schmerz in ihrem Körper. Ihr Fleisch brennt, in den Ohren gellen seine Schreie. Seine Wut tropft geifernd in ihr Gesicht. Nein, will sie rufen, halt, stopp! Doch sie kommt nicht dazu. Ein Schwinger presst ihr die Luft aus dem Magen. Hör auf, will sie schreien. Heute nicht, bitte, bitte nicht.
Gnadenlos treibt er sie durch die Wohnung, steckt ihren Kopf in die Kloschüssel, die seiner Meinung nach nicht sauber genug ist, schlägt ihr die Schmutzwäsche um die Ohren, stößt ihr den Besenstiel in die Rippen, weil er nicht dort steht, wo er hingehört. Schlampe, Dreckstück, Hure. Du blödes Stück Scheiße, ich werd’s dir zeigen! Faul auf dem Sofa liegen, während mein Chef mich rundmacht, dieses inkompetente Arschloch, dieser Flachwichser! Soll ich dir zeigen, was ich mit ihm machen will?
Sie taumelt durch die Wohnung, ist auf der Flucht. Tränen blenden sie. Doch es gibt keinen Schutz vor diesem Monster. Es hängt ihr an den Fersen, ist hinter ihr, neben ihr, vor ihr. Überall. Sie hat keine Grenzen mehr, keine Distanz. Alles, was er sagt, ist persönlich gemeint, jeder Schlag trifft allein sie.
Irgendwann hört er auf. Sie hockt vor ihm, die Arme zum Schutz um den Kopf gepresst.
»Na«, sagt er. »Das hat sich doch mal richtig gelohnt, nicht wahr?«
Sie sieht ihn nicht an, ist das perfekte Opfer.
Langsam lässt er sich in die Hocke sinken, umfasst sanft ihr Kinn. »Schau mich an«, bittet er. »Du warst großartig. Soviel Gegenwehr. Schau nur, wie ruhig ich wieder bin.«
Als er sie küssen will, weigert sie sich. »Warum hasst du mich so?«, flüstert sie mit aufgeplatzter Lippe. »Was hab ich dir denn getan?«
Er runzelt verärgert die Stirn. »Was sind denn das für Töne?«
Ihre Tränen berühren ihn, bringen sein Blut zum Kochen.
»Anscheinend hast du noch nicht genug, was? Dann hör mal gut zu, Süße. Ich kann noch viel mehr mit dir machen, Patty-Maus. Du dummes, kleines Ding. Meinst du, es ist ratsam, mir Schuldgefühle einzureden? Meinst du das wirklich?«
Sie sieht ihn nur starr an.
»Wir haben ein Abkommen, Patty. Ich habe das Codewort gesagt, du hast zugestimmt. Also mach nicht solche Zicken.« Er fährt sich durchs Haar. Sein Körper zittert vor Wut.
Kann er nicht einmal nach Hause kommen, ohne dass es Ärger gibt? Kann sie ihm nicht diese Viertelstunde gönnen? Weiß sie nicht, wie wichtig das hier für ihn ist? Aber nein, nur haben wollen, haben, haben. Hast du mich lieb? Liebst du mich? Ganz bestimmt? Bin ich dein Ein und Alles? Nein, verflucht noch mal. Ich hätte etwas ganz anderes haben können, aber ich bin nun mal mit dir gestrandet, du beschissene Kuh, die lügt und betrügt und mich zum Hampelmann macht. Die ihre ganze Kohle in eine Puppe steckt, während ich mich den ganzen Tag abstrampeln darf! Und jetzt will sie Theater machen, weil ich genau das mache, wozu sie mich abgerichtet hat?
»Ich lass mir das nicht kaputt machen«, greint er hilflos vor Zorn. »Ich lass mir das Prügeln nicht verbieten. Nicht von dir!«
Seine Hände legen sich um ihren Hals. »Weißt du, Liebling, ich liebe dich, wirklich. Aber nicht immer. Das kann ich nicht, das kann niemand. Und dann nervst du so entsetzlich. Mit deiner Liebe, mit deiner Fürsorge.«
Er drückt zu, während er sie mit hoher Stimme nachäfft: »Wie geht es dir? Wie war dein Tag? Ist alles in Ordnung? Bist du glücklich? Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Sein Blut beginnt wieder zu singen, als er ihre verzweifelte Gegenwehr spürt.
»Klar kannst du was tun! LASS MICH EINFACH MAL FREI ATMEN!«
Patrizia hört nicht mehr, wie es schellt. Patrizia spürt nicht mehr, wie Thomas sie achtlos auf den Boden fallen lässt, um zur Tür zu gehen. Und sie hört auch die fröhliche Stimme des Kuriers nicht mehr.
»Guten Abend, eine Eilsendung für Frau Heussler. Ich bringe den reparierten Avatar. Ist wieder wie neu. Wenn Sie bitte hier einmal den Empfang quittieren?«
»Das wird eine gute Ernte.« Aly schlug die Augen auf. »Ich weiß, das wird ein richtig, richtig großes Leuchten!« Ein Lächeln bahnte sich seinen Weg, fuhr die vollen Lippen entlang und ließ sich schließlich in den Grübchen nieder.
Draußen war es bereits dunkel, doch das tat ihrer Laune keinen Abbruch. Zu spät? Sie konnte nicht zu spät kommen, denn es war ihr Acker. Er würde warten. Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihren Leinenkittel und wand sich den wirren Haarschopf zu einem losen Dutt. Aussehen! Was galten schon Aussehen oder Ordnung oder Vernunft, wenn es um den ersten Blick ging? Niemand hatte es ihr bislang eintrichtern können und mittlerweile gab es auch niemanden mehr, der das überhaupt versuchte.
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