Die Maschinen schwiegen wieder. Der Defibrillator hatte sein Werk getan. Alles okay. Er atmete tief durch. Die Frau lächelte nicht mehr. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, ihr Körper schlaff. Vorsichtig legte er die Hand an ihr Gesicht. Ihre Haut fühlte sich kalt an, ein leichter Schweißfilm hatte sich gebildet. Normalerweise – bei jedem anderen Patienten – wäre er jetzt wieder in sein Kabuff gegangen, hätte auf den Notdienst gewartet, der eigentlich schon längst hätte hier sein sollen. Hätte das Buch aufgeschlagen und weitergelesen. Doch diesmal – jetzt, wo sie aus der größten Gefahr wieder sicher heraus war – war es ihm recht, dass die Nachtschicht trödelte. Diesmal wollte er sich nicht in die Welt in seinem Kopf flüchten. Diesmal saß er einer Wirklichkeit gegenüber, die ihn mehr faszinierte, als er sich selbst zugestehen wollte. Er hatte die Rechte noch immer an ihr Gesicht gelegt – er spürte dabei den Pulsschlag an ihrer Schläfe – als er mit der anderen Hand die ihre umfasste und an seine Brust hob. Der Kreis war geschlossen.
Aly lag auf den groben Dielen der Veranda, hilflos. Der Geist war gelähmt, die Empfindung gedrosselt, sodass das einzige, das sie zurzeit wahrnehmen konnte, der eigene Atem war. Sie spürte ihn, wie er über ihre Lippen strich, sie hörte ihn, sie spürt das Heben und Senkens des Brustkorbes. Sie hatte die Augen noch immer geöffnet, doch fiel es ihr schwer, die Bilder die sie sah, zu deuten. Da war nichts, wo Ähren hätten stehen sollen. Da war eine chaotische ungeordnete Dunkelheit, zerfetzt von einzelnen Funken oder bekränzt von orangenem Feuerschein.
»Nicht richtig!«, murmelte sie. »Das ist alles nicht richtig!«
Langsam schob sie sich an die Kante der Veranda, zögernd griff sie nach einem geknickten Halm. Sie hielt ihn sich dicht vors Gesicht, schützend zwischen beiden Handflächen verborgen.
»Zeig mir, wie es sein soll«, flüsterte sie. »Ich weiß, du lebst noch. Irgendwo. Irgendwie.« Und sie hauchte auf den Halm, wiegte ihn leicht, dachte an all die Liebe, die sie für ihn fühlte. Ganz allmählich kehrte die Bläue zurück. Aber sie war schwach und flackerte unstet. Schließlich erlosch sie ganz. Aly erschlaffte.
Das Gefühl kehrte in ihren Körper zurück, in ihr Herz. Alles schmerzte. Sie krümmte sich zusammen, die Arme eng um den Leib geschlungen, so als ob sie alles festhalten müsste, was sie ausmachte, was zu ihr gehörte, als ob sie in Stücke zerbersten würde, wenn sie es nicht täte.
Er spürte die Veränderung in ihrem Geist. Er spürte, wie das Leben in sie zurückkehrte, und er spürte, dass ihr das nicht guttat. Er sah ihr Winden, ihre schmerzverzerrte Miene. Nichts konnte sie zurückhalten. Ihr Gesicht war eine Leinwand, doch der Film, der sich hinter ihren Lidern abspielen musste, wollte er nicht sehen. Zuviel Schmerz.
Doch anstatt sie loszulassen, aufzustehen, das Zimmer zu verlassen, legte er ihre Hand, die bis eben an seiner Brust geruht hatte, höher, an seine Schläfe. Warum er das tat? Das wusste er nicht und jetzt war nicht die Zeit für Fragen. Er schloss die Augen. Nur um sich einen Moment später auf einem verwüsteten Feld wieder zu finden.
Aly bemerkte einen hellen Schimmer aus den Augenwinkeln. Es war weißes Licht, das sie spürte, weißes Licht, das sie sah, reines Licht, ganz anders als die schmutzig roten Flammen oder das letzte trübviolette Aufflackern. Sie hob den Kopf, um genauer zu sehen. Am Horizont war eine Gestalt aufgetaucht, hell leuchtend. Und dort, wo ihre Füße die Erde berührten, richteten sich die Halme wieder auf, grün und saftig wie zuvor.
»Kann das sein?«, wollte sie fragen. »Wer bist du?«, wollte sie fragen.
Doch dies war nicht die rechte Zeit für Fragen, also kniete sie weiter auf der Veranda und sah dem Wunder zu, das sich nicht mehr nur auf den Weg beschränkte, den die Erscheinung nahm, sondern sich nach links und rechts fortpflanzte. Wie Elmsfeuer flutete Licht hinweg über die zerstörte Grasnarbe, um das, was krank war, zu heilen und um das, was im Sterben lag, wiederzubeleben.
Die Gestalt hielt auf halbem Weg zu Alys Kate inne.
»Komm zu mir!«
»Ich kann nicht« erwiderte Aly. »Ich traue mich nicht. Wenn ich mich bewege, werde ich zerbersten!«
Das Wesen schüttelte langsam den Kopf. »Du wirst es schaffen, ich weiß es. Vertraue mir!«
»Bist du der, der kommen wird?«
»Ich bin der, der da ist.«
In diesem Moment bemerkte Aly, dass das schwarze Lachen längst verstummt war. Sie sah sich um. Da waren keine Krähen auf dem Feld. Da lag kein Feuerbrausen in der Luft. Alles war still.
»Das ist mein Acker?«, fragte sie leise. »Er wird warten? So wie immer?«
»ER ist bereit für dich.«
Aly erhob sich langsam. Mit der einen Hand stützte sie sich an einem der Holzpfeiler ab, die das Vordach der Veranda trugen, mit der anderen strich sie den Leinenkittel glatt.
»Es war alles gut«, murmelte sie. »Was ist nur geschehen?«
»Es ist alles gut und es wird alles gut. Denn es ist alles so, wie es sein soll.«
Aly hob den Kopf. »Du hast recht. Es ist, wie es ist.«
Bei diesen Worten war es ihr, als ob aller Schmerz abfiele, aller Kummer, alle Trauer.
»Es wird eine gute Ernte!«, rief sie der Gestalt zu. »Wir müssen nur daran glauben!«
Mit diesen Worten sprang sie von der Veranda und lief zu dem Wesen, quer über den Acker, der unter ihren Füßen zu neuem Leben gerufen wurde. Sie hinterließ eine Spur des Wachstums und der Kraft, der Freude und Liebe und alles, alles war von einem roten Licht überhaucht, das von ihr ausging.
Bei ihm angekommen blieb sie stehen, blickte zu ihm hoch. »Du bist der, auf den ich gewartet habe?«, fragte sie lächelnd. »Whiall chomain, willkommen zu Hause. Es ist alles bereit für dich. Aber erst müssen wir ernten!«
Und mit einem Lachen wirbelte sie um ihre Achse, tanzte durch das Feld und strich mit den Händen über die prallen Lichtähren. »Gebt, ihr Lieben, gebt, was ihr habt! Das Warten hat ein Ende!«
Als die Nachtschicht das Schlaflabor erreichte, wurde sie von einem blauen Licht geblendet, das aus dem Zimmer der rotlockigen Frau drang. Übernatürlich sei es gewesen, würden sie später sagen. Unheimlich. Aber da es keine Beweise gab und die betreffende Patientin ebenso hartnäckig schwieg wie der Student, der für die Nachtwache eingeteilt war, glaubte man ihnen nicht und der Vorfall geriet bald in Vergessenheit.
Die Frau und der Student trafen sich nicht wieder. Als er zur nächsten Nachtschicht eintraf, hatte sie das Schlaflabor bereits verlassen. Nur manchmal, im Traum, war es ihnen, als wäre da eine verwandte Seele an ihrer Seite, die ihnen den Weg zeigte, Mut machte – und Licht schickte.
Ich schlafe. Ich wache. Ich träume. Ich bin. Einatmen, ausatmen – tief dringt der Duft des weed in meine Lunge, bringt Bilder mit sich; Bilder, die sich aus einem Nebel heraus klären, fokussieren. Mit nadelspitzen Stichen werden sie fieberhaft hinter meine Lider gestickt. Welten entstehen, greifbare Universen. Ich kann sie riechen, fühlen, schmecken. Meine Nerven summen, die Muskeln spannen sich an, mein ganzer Körper ist auf dem Sprung. Alles, was eben noch weich war, biegsam und sanft, wird hart und unnachgiebig. Ich suche nicht länger den Kompromiss, ich suche die Konfrontation.
Da sind Hände auf mir; zarte Hände, warme, weiche Hände; die Finger lang und schmal. Ich spüre sie, möchte sie packen, möchte mein Gesicht in ihnen vergraben, doch meine Arme sind festgebunden. Sie hat es getan, sie hat mich gefesselt, als es noch nicht nötig war. Als ich eben so weich und nachgiebig und reif war wie sie. Küss mich, denke ich. Schenke mir Erlösung. Doch sie streichelt nur; langsam und quälend. Hin und wieder lässt sie ihren Fingerspitzen freien Lauf, lässt sie verspielt tänzeln, Muster auf meine Haut zeichnen, die tief in mein Fleisch einsinken. Das Sehnen in mir wächst und wächst, es wird mich zerreißen, doch ich will nicht, dass sie aufhört.
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